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Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (SozialMissbrG) vom 11.07.2019 (BGBl I 2019, 1066) geänderten Fassung (im Folgenden nur: EStG) einer Kindergeldauszahlung entgegensteht.
3Die Klägerin bezog in der Vergangenheit u.a. für ihren Sohn K. (geb. xx.xx.1995) Kindergeld, weil dieser sich in Ausbildung befand. Für Januar 2017 teilte die Klägerin das Ende der Ausbildung mit, woraufhin die Beklagte die Kindergeldfestsetzung ab Februar 2017 aufhob.
4Mit Antrag vom 29.07.2019, eingegangen bei der zuständigen Familienkasse am 30.07.2019, beantragte die Klägerin rückwirkend Kindergeld für ihren Sohn K., weil dieser seit 2014 ein ausbildungsbegleitendes Verbundstudium absolviert habe. Mit Bescheid vom 26.08.2019 erfolgte zwar eine antragsgemäße Kindergeldfestsetzung. Die Beklagte wies im Bescheid aber darauf hin, dass wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Auszahlung erst ab Januar 2019 erfolgen könne.
5Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin wegen der Anwendung von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolglos Einspruch ein und führte gegen die abschlägige Einspruchsentscheidung vom 14.10.2019 zunächst das Klageverfahren 4 K 3387/19 Kg, auf dessen beigezogene Akte wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Im Laufe jenes Verfahrens erließ die Beklagte unter dem 30.04.2020 den hier streitgegenständlichen förmlichen Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 der Abgabenordnung – AO –). Darin sprach sie aus, dass eine Kindergeldauszahlung für die Monate Februar 2017 bis Dezember 2018 wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht erfolgen könne. Hieran hielt sie auch in der Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 fest.
6Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Klage erhoben. Sie macht geltend, dass § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ebenso wie § 66 Abs. 3 EStG in der Fassung des Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes vom 23.06.2017 (BGBl I 2017, 1682, im Folgenden nur: a.F.), der inhaltsgleichen Vorgänger-Vorschrift, nicht auf den Bereich der Erhebung beschränkt sei und nicht erst bei der Auszahlung habe berücksichtigt werden dürfen, sodass der unbeschränkten Kindergeldfestsetzung zur Auszahlung zu verhelfen sei. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sei zudem ein Fremdkörper im System und als solcher verfassungswidrig. Dies ergebe sich nicht zuletzt aufgrund der Folgen, die im Rahmen der Günstigerprüfung zwischen Kinderfreibetrag und Kindergeld entstünden, wenn nicht ausgezahltes, mithin fiktives Kindergeld angerechnet werde. Das Existenzminimum der Kinder werde in diesen Fällen nicht freigestellt.
7Die Klägerin beantragt sinngemäß,
8den Abrechnungsbescheid vom 30.04.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 dahingehend abzuändern, dass sie das Kindergeld für das Kind K. (geb. xx.xx.1995) auch für den Zeitraum Februar 2017 bis Dezember 2018 ausgezahlt wird.
9Die Beklagte beantragt,
10die Klage abzuweisen.
11Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung.
12Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.
13Entscheidungsgründe
14Die Klage, über die der Senat gem. § 90 Abs. 2 FGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ist nicht begründet.
15Eine Rechtsverletzung der Klägerin liegt nicht vor. Der angefochtene Abrechnungsbescheid vom 30.04.2020 und die Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 sind rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte hat über § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG richtigerweise durch Abrechnungsbescheid im Sinne des § 218 Abs. 2 AO entschieden und die verfassungsgemäße Vorschrift zutreffend angewendet.
161. Zu Recht hat die Beklagte über die Voraussetzungen von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch förmlichen Abrechnungsbescheid entschieden. Denn gem. § 218 Abs. 2 Satz 1 AO ist über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis – also das sog. Erhebungsverfahren – betreffen (hier: die Auszahlung des Kindergeldes als Steuervergütung, § 31 Satz 3 EStG), durch einen solchen Bescheid zu entscheiden und § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist dem Erhebungsverfahren zuzuordnen (ebenso z.B. Selder in: Blümich [Stand: 03.2021], EStG § 70 Rn. 19; Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG [Stand: 04.2021], § 70 EStG, Rz. 7). Letzteres ergibt sich zweifelsfrei nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, in dem von „Auszahlung“ des „festgesetzten Kindergeldes“ die Rede ist und die Ebenen von Festsetzung und Erhebung (Auszahlung) mithin klar voneinander getrennt werden. Auch an der Entstehungsgeschichte und der gesetzgeberischen Intention lässt sich das deutlichablesen. Die Einführung der Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch das SozialMissbrG ist die Reaktion des Gesetzgebers auf die (von ihm offenbar unbeabsichtigte) Zuordnung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. zum Festsetzungsverfahren durch die Finanzgerichte und den Bundesfinanzhof – BFH – (s. dazu statt vieler BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704) und sollte der „Klarstellung“ der Zuordnung der Auszahlungsbeschränkung zum Erhebungsverfahren dienen (vgl. Begründung zum Entwurf des SozialMissbrG, BT-Drucks. 19/8691, S. 65, 67).
172. Die Anwendung von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch die Beklagte ist fehlerfrei.
18a) Gem. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolgt eine Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Vorschrift ist gem. § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG auf Anträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen.
19b) Diesen Maßgaben wird der angefochtene Abrechnungsbescheid gerecht.
20Maßgebend ist hier der am 30.07.2019, mithin im zeitlichen Anwendungsbereich des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, bei der zuständigen Familienkasse eingegangene Kindergeldantrag der Klägerin (§ 67 EStG). Mit diesem lag erstmals ein Kindergeldantrag für den hier in Rede stehenden Zeitraum Februar 2017 bis Dezember 2018 vor (Neuantrag). Dass die Vorschrift lediglich auf Erstanträge beschränkt wäre, lässt sich dem Wortlaut und auch den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen (s. BT-Drucks. 19/8691, S. 65, 67 sowie schon BT-Drucks. 18/12127, S. 62; vgl. auch BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293).
21Die Berechnung des Sechs-Monats-Zeitraums ist, was von der Klägerin auch nicht in Zweifel gezogen wird, im Streitfall zutreffend erfolgt. Das bedarf keiner weiteren Erläuterung. Ob – anders als bei § 66 Abs. 3 EStG a.F. (s. dazu z.B. BFH-Urteil vom 24.10.2000 VI R 65/99, BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109: materielle-rechtliche Ausschlussfrist) – bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zuzulassen wäre, bedarf keiner Erörterung, weil Gründe hierfür nicht vorgetragen worden waren und auch nicht ersichtlich waren.
223. Durchgreifende verfassungsrechtliche Zweifel an § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG oder seiner Anwendung im Streitfall bestehen nicht.
23a) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) liegt nicht vor. Unterschiedliche Fristen im Kindergeld-Verfahren und bei der Einkommensteuer-Veranlagung sind, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 06.11.2003 2 BvR 1240/02 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report 2004, 81) – zur sechsmonatigen Kindergeld-Ausschlussfrist in § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996 – anschließend an das BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00 (a.a.O.) ausgeführt hat, nicht evident sachwidrig und der Gesetzgeber überschreitet den bei der Gewährung einer staatlichen Sozialleistung größeren Gestaltungsspielraum nicht. Nichts anderes kann für die hier in Rede stehende Konstellation gelten.
24b) Es wird auch nicht das verfassungsrechtliche Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums (Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG) verletzt.
25Dies gilt zunächst für die Einführung einer sechsmonatigen Antragsfrist als solche. Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen. Dies hat der BFH zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. im Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19 (BFH/NV 2021, 449 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 06.11.2003 2 BvR 1240/02, a.a.O.) ausdrücklich entschieden und dem schließt sich der Senat auch mit Blick auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG an. Denn diese verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nach dem Dafürhalten des Senats nicht davon ab, ob die Frist dem Festsetzungs- oder dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
26Im Übrigen ist die sachgerechte und verfassungsgemäße Berücksichtigung etwaiger Antragsfristen Ziel und Aufgabe von § 31 EStG und wäre ggf. der Einkommensteuerfestsetzung entgegenzuhalten. Entsprechendes hat der BFH ebenfalls im Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19 (a.a.O.) zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgesprochen (s. im Einzelnen auch Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG [Stand: 04.2021], § 66 EStG, Rz. 4) und nichts anderes gilt für § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Denn auch insoweit hängt die verfassungsrechtliche Einordnung nicht von der Zuordnung der Antragsfrist zum Festsetzungs- oder Erhebungsverfahren ab. Ob die § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG flankierenden Änderungen in §§ 2 Abs. 6 Satz 3, 31 Satz 5 EStG (s. BT-Drucks. 19/10683, S. 51) der Antragsfrist – aus verfassungsrechtlicher Sicht – nicht ohnehin schon hinreichend Rechnung tragen (zweifelnd wegen des zeitlichen Anwendungsbereiches etwa Seifert, GStB 2020, 303), bedarf hier folglich ebenso keiner Vertiefung, wie die Frage, ob es genügen würde, wenn etwaige sachwidrige Ergebnisse im Einzelfall über Billigkeitsmaßnahmen aufgefangen würden (so zur damaligen Rechtslage des ausgelaufenen § 66 Abs. 3 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, a.a.O.).
27Anderweitige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG hat die Klägerin weder aufgeworfen noch sind solche ersichtlich. Insbesondere ist das Vorbringen der Klägerin, dass es sich bei der Vorschrift um einen „Fremdkörper im Rechtssystem“ handele, für sich besehen nicht geeignet, eine Verfassungswidrigkeit zu begründen.
284. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
295. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 FGO zugelassen.