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Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
2Streitig ist, ob § 70 Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes in der durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch (SozialMissbrG) vom 11.07.2019 (BGBl I 2019, 1066) geänderten Fassung (im Folgenden nur: EStG) einer Kindergeldauszahlung entgegensteht.
3Der Kläger bezog – anschließend an seinen Kindergeldantrag vom 23.11.2015 – für seinen Sohn K (geb. xx.xx.1998) Kindergeld. Dessen Festsetzung hob die Beklagte mit Bescheid vom 18.06.2018 ab Juli 2018 auf, weil der Sohn des Klägers nach den ihr vorliegenden Unterlagen seine am 01.08.2015 begonnene Berufsausbildung xxx abgeschlossen habe.
4Innerhalb der Einspruchsfrist legte der Kläger eine Erklärung zum Ausbildungsverhältnis des Sohnes vor, in der er als Monat der Abschlussprüfung den 11.07.2018 angab.
5Daraufhin setzte die Beklagte mit Bescheid vom 18.07.2018 Kindergeld für den Monat Juli 2018 fest und verwies auf das Ende der Ausbildung.
6Mit Unterschrift vom 02.09.2019 reichte der Kläger bei der Beklagten ein ausgefülltes Antragsformular für Kindergeld mit Anlage Kind sowie eine Mitteilung über ein Kindohne Ausbildungs- oder Arbeitsplatz ein (Eingang am 03.09.2019, Bl. 152-164 der Kindergeldakte). Dem fügte er u.a. einen Änderungsvertrag zum Berufsausbildungsvertrag im Ausbildungsberuf xxx (datierend 23.07.2018) bei, in dem unter Verweis auf eine nicht bestandene Prüfung ein Ausbildungsende am 31.07.2019 angegeben war, sowie eine Aufhebungsvereinbarung (datierend 03.07.2019) über das Ausbildungsverhältnis mit Wirkung zum 01.07.2019. Wegen der Einzelheiten wird auf die Unterlagen Bezug genommen.
7Mit Bescheid vom 13.09.2019 setzte die Beklagte gegenüber dem Kläger Kindergeld für dessen Kind K ab dem Monat August 2018 fest und führte in dem Bescheid aus, dass sich hieraus ein Kindergeldanspruch erst ab März 2019 ergebe. Dies beruhe auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG.
8Gegen diesen Bescheid legte der Kläger wegen der Anwendung von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolglos Einspruch ein und führte gegen die abschlägige Einspruchsentscheidung vom 27.09.2019 zunächst das Klageverfahren 4 K 3207/19 Kg, auf dessen beigezogene Akte wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Im Laufe jenes Verfahrens erließ die Beklagte unter dem 30.04.2020 den hier streitgegenständlichen förmlichen Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 der Abgabenordnung – AO –). Darin sprach sie aus, dass eine Kindergeldauszahlung für den Zeitraum August 2018 bis Februar 2019 wegen der Auszahlungsbeschränkung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht erfolgen könne. Hieran hielt sie auch in der Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 fest.
9Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Klage erhoben. Er geht davon aus, dass § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG in seinem Fall bereits nicht einschlägig sei, weil sein Kindergeldantrag vom 02.09.2019 nicht als „Fortsetzungsantrag“ oder Neuantrag zu verstehen sei. Vielmehr stehe ihm aufgrund des Charakters des Kindergeldanspruchs als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ein unbegrenzter Zahlungsanspruch zu. Es sei schon gar nicht nachvollziehbar, warum die Kindergeldzahlung überhaupt im August 2018 eingestellt worden sei, obwohl die Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung vorgelegen hätten und von der Beklagten auch mit Bescheid vom 13.09.2019 nochmals bestätigt worden seien. Nach seinen, des Klägers, Erkenntnissen habe die Einstellung der Zahlung auf einem Irrtum beruht.
10Er beantragt sinngemäß,
11den Abrechnungsbescheid vom 30.04.2020 in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 dahingehend abzuändern, dass an ihn das Kindergeld für das Kind K (geb. xx.xx.1998) auch für den Zeitraum von August 2018 bis Februar 2019 ausgezahlt werde.
12Die Beklagte beantragt,
13die Klage abzuweisen.
14Sie verweist auf die Einspruchsentscheidung und führt – im Wege der Bezugnahme auf den Schriftverkehr im Klageverfahren 4 K 3207/19 Kg – aus, dass es sich bei dem Antrag vom 03.09.2019 um einen Neuantrag gehandelt habe, mit dem der Kläger erstmals die Kindergeldvoraussetzungen für den Zeitraum ab August 2018 geltend gemacht und belegt habe.
15Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung verzichtet.
16Entscheidungsgründe
17Die Klage, über die der Senat gem. § 90 Abs. 2 FGO ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheidet, ist nicht begründet.
18Eine Rechtsverletzung des Klägers liegt nicht vor. Der angefochtene Abrechnungsbescheid vom 30.04.2020 und die Einspruchsentscheidung vom 29.10.2020 sind rechtmäßig (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Die Beklagte hat über § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG richtigerweise durch Abrechnungsbescheid im Sinne des § 218 Abs. 2 AO entschieden und die verfassungsgemäße Vorschrift zutreffend angewendet.
191. Zu Recht hat die Beklagte über die Voraussetzungen von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch förmlichen Abrechnungsbescheid entschieden. Denn gem. § 218 Abs. 2 Satz 1 AO ist über Streitigkeiten, die die Verwirklichung der Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis – also das sog. Erhebungsverfahren – betreffen (hier: die Auszahlung des Kindergelds als Steuervergütung, § 31 Satz 3 EStG), durch einen solchen Bescheid zu entscheiden und § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG ist dem Erhebungsverfahren zuzuordnen (ebenso z.B. Selder in: Blümich [Stand: 03.2021], EStG § 70 Rn. 19; Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG [Stand: 04.2021], § 70 EStG, Rz. 7). Letzteres ergibt sich zweifelsfrei nicht nur aus dem Wortlaut der Vorschrift, in dem von „Auszahlung“ des „festgesetzten Kindergeldes“ die Rede ist und mithin die Ebenen von Festsetzung und Erhebung (Auszahlung) klar voneinander getrennt werden. Auch an der Entstehungsgeschichte und der gesetzgeberischen Intention lässt sich das deutlich ablesen. Die Einführung der Regelung in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch das SozialMissbrG ist die Reaktion des Gesetzgebers auf die (von ihm offenbar unbeabsichtigte) Zuordnung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. zum Festsetzungsverfahren durch die Finanzgerichte und den Bundesfinanzhof – BFH – (s. dazu statt vieler BFH-Urteil vom 19.02.2020 III R 66/18, BStBl II 2020, 704) und sollte der „Klarstellung“ der Zuordnung der Auszahlungsbeschränkung zum Erhebungsverfahren dienen (vgl. Begründung zum Entwurf des SozialMissbrG, BT-Drucks. 19/8691, S. 65, 67).
202. Die Anwendung von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG durch die Beklagte ist fehlerfrei.
21a) Gem. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG erfolgt eine Auszahlung von festgesetztem Kindergeld rückwirkend nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Vorschrift ist gem. § 52 Abs. 50 Satz 1 EStG auf Anträge anzuwenden, die nach dem 18.07.2019 eingehen.
22b) Diesen Maßgaben wird der angefochtene Abrechnungsbescheid gerecht.
23aa) Maßgebend ist hier der am 03.09.2019, mithin im zeitlichen Anwendungsbereich des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG, bei der zuständigen Familienkasse eingegangene Kindergeldantrag des Klägers (§ 67 EStG). Mit diesem lag erstmals ein Kindergeldantrag für den Zeitraum ab August 2018 vor (Neuantrag). Dass die Vorschrift lediglich aufErstanträge beschränkt wäre, lässt sich dem Wortlaut und auch den Gesetzgebungsmaterialien nicht entnehmen (s. BT-Drucks. 19/8691, S. 65, 67 sowie schon BT-Drucks. 18/12127, S. 62; vgl. auch BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293).
24bb) Die hiergegen gerichteten Einwände des Klägers greifen nicht durch.
25§ 70 Abs. 1 Satz 2 EStG knüpft ausdrücklich an einen Kindergeldantrag an, sodass der Hinweis des Klägers auf seinen unbegrenzten (schuldrechtlichen) Zahlungsanspruch seinem Begehren nicht zum Erfolg verhilft (zur Anwendung von § 47 AO s. Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG [Stand: 04.2021], § 70 EStG, Rn. 7, anders Selder in: Blümich [Stand: 03.2021], EStG § 70 Rn. 19).
26Gleiches gilt für den Charakter der Kindergeldfestsetzung als Dauerverwaltungsakt. Denn ein offener Kindergeldantrag, der auf die hier in Rede stehenden Zeiträume gerichtet gewesen sein könnte, lag zum Zeitpunkt der Antragstellung am 03.09.2019 nicht mehr vor. Zwar hatte der Kläger bereits zu einem früheren Zeitpunkt Kindergeldanträge gestellt. Diese waren aber vollständig beschieden.
27Zum einen hatte die Beklagte die auf den Kindergeldantrag vom 23.11.2015 folgende Kindergeldfestsetzung mit Bescheid vom 18.06.2018 ab Juli 2018 wegen des – vom Kläger selbst mitgeteilten – Ausbildungsendes seines Sohnes aufgehoben (vgl. dazu auch BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, a.a.O.). Etwas anderes lässt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, dass der Kläger diesem ursprünglich gestellten Kindergeldantrag vom 23.11.2015 eine zeitliche Reichweite bis zum tatsächlichen (und nicht nur bis zum der Behörde mitgeteilten) Ausbildungsende zugedacht hatte und infolgedessen über diesen Antrag – von der Beklagten unerkannt – nicht vollständig entschieden worden wäre. Denn wollte man einer solchen Auslegung des seinerzeitigen Kindergeldantrags überhaupt näher treten, wäre jener Antrag unbeschadet der ihm vom Antragsteller zugedachten zeitlichen Reichweite durch den Aufhebungsbescheid vom 18.06.2018 „verbraucht“ (vgl. dazu BFH-Urteil vom 26.06.2014 III R 6/13, BFHE 246, 315, BStBl II 2015, 149 unter II. 4.).
28Zum anderen konnte die dem Aufhebungsbescheid vom 18.06.2018 nachfolgende Eingabe des Klägers mit dem Hinweis, dass die Ausbildung seines Sohnes erst im Juli 2018 ende, nur so verstanden werden, wie es die Beklagte tat, dass nämlich auch, aber nur noch für den Monat Juli 2018 Kindergeld beansprucht und beantragt werde. Diesem Antrag (Einspruch) ist die Beklagte durch Bescheid vom 18.07.2018 in vollem Umfang nachgekommen.
29Aus alledem folgt zugleich, dass hier auch kein Fall der Abänderung einer Kindergeldfestsetzung aufgrund einer Korrekturvorschrift vorliegt, für die § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht gelten soll (vgl. Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG – Stand: 2020 – V 13 Abs. 1 Satz 3). Für den hier in Rede stehenden Zeitraum fehlte es nämlich gänzlich an einer behördlichen Regelung, insbesondere kam der Aufhebungsentscheidung vom 18.06.2018 keine Wirkung für die Zukunft zu (vgl. BFH-Urteil vom 17.03.2020 III R 32/19, BFH/NV 2021, 40 unter II. 3.).
30cc) Die Berechnung des Sechs-Monats-Zeitraums ist, was vom Kläger nicht in Zweifel gezogen wird, im Streitfall zutreffend erfolgt. Das bedarf keiner weiteren Darlegung. Ob – anders als bei § 66 Abs. 3 EStG a.F. (s. dazu z.B. BFH-Urteil vom 24.10.2000VI R 65/99, BFHE 193, 361, BStBl II 2001, 109: materiell-rechtliche Ausschlussfrist) – bei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 110 AO) zuzulassen wäre, bedarf keiner Erörterung, weil Gründe hierfür nicht vorgetragen worden und auch nicht ersichtlich waren.
313. Durchgreifende verfassungsrechtliche Zweifel an § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG oder seiner Anwendung im Streitfall bestehen nicht.
32a) Ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) liegt nicht vor. Unterschiedliche Fristen im Kindergeld-Verfahren und bei der Einkommensteuer-Veranlagung sind, wie das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) im Beschluss vom 06.11.2003 2 BvR 1240/02 (Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht – Rechtsprechungs-Report 2004, 81) – zur sechsmonatigen Kindergeld-Ausschlussfrist in § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996 – anschließend an das BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00 (a.a.O.) ausgeführt hat, nicht evident sachwidrig und der Gesetzgeber überschreitet den bei der Gewährung einer staatlichen Sozialleistung größeren Gestaltungsspielraum nicht. Nichts anderes kann für die hier in Rede stehende Konstellation gelten.
33b) Es wird auch nicht das verfassungsrechtliche Gebot der steuerlichen Verschonung des Familienexistenzminimums (Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG) verletzt.
34Dies gilt zunächst für die Einführung einer sechsmonatigen Antragsfrist als solche. Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen. Dies hat der BFH zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. im Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19 (BFH/NV 2021, 449 unter Verweis auf BVerfG, Beschluss vom 06.11.2003 2 BvR 1240/02, a.a.O.) ausdrücklich entschieden und dem schließt sich der Senat auch mit Blick auf § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG an. Denn diese verfassungsrechtliche Beurteilung hängt nach dem Dafürhalten des Senats nicht davon ab, ob die Frist dem Festsetzungs- oder dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist.
35Im Übrigen ist die sachgerechte und verfassungsgemäße Berücksichtigung etwaiger Antragsfristen Ziel und Aufgabe von § 31 EStG und wäre ggf. der Einkommensteuerfestsetzung entgegenzuhalten. Entsprechendes hat der BFH ebenfalls im Urteil vom 09.09.2020 III R 37/19 (a.a.O.) zu § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgesprochen (s. im Einzelnen auch Wendl in: Herrmann/Heuer/Raupach, EStG/KStG [Stand: 04.2021], § 66 EStG, Rz. 4) und nichts anderes gilt für § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG. Denn auch insoweit hängt die verfassungsrechtliche Einordnung nicht von der Zuordnung der Antragsfrist zum Festsetzungs- oder Erhebungsverfahren ab. Ob die § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG flankierenden Änderungen in §§ 2 Abs. 6 Satz 3, 31 Satz 5 EStG (s. BT-Drucks. 19/10683, S. 51) der Antragsfrist – aus verfassungsrechtlicher Sicht – nicht ohnehin schon hinreichend Rechnung tragen (zweifelnd wegen des zeitlichen Anwendungsbereiches etwa Seifert, GStB 2020, 303), bedarf hier folglich ebenso keiner Vertiefung, wie die Frage, ob es genügen würde, wenn etwaige sachwidrige Ergebnisse im Einzelfall über Billigkeitsmaßnahmen aufgefangen würden (so zur damaligen Rechtslage des ausgelaufenen § 66 Abs. 3 EStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 1996 BFH-Urteil vom 14.05.2002 VIII R 68/00, a.a.O.).
36Anderweitige Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit von § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG sind weder aufgeworfen, noch sind solche ersichtlich.
374. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
385. Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 FGO zugelassen.