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1. Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG (sog. "Vier-Augen-Prinzip") sind nach der Aufhebung dieser Richtlinie auch auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen, nicht mehr anzuwenden. Eine Fortgeltung nur für diesen Personenkreis verstieße gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls.
2. Ausländer, die infolge einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden sind, unterfallen nicht dem Anwendungsbereich der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie).
3. Eine unterbliebene Befristung des aufgrund einer Ausweisung entstehenden Einreiseverbots kann selbst im Fall unterstellter Anwendbarkeit der Rückführungsrichtlinie nicht zur Rechtswidrigkeit auch der Ausweisung führen, sondern allenfalls die Rechtmäßigkeit des Einreiseverbots berühren.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Der am 21. Juni 1974 in C. geborene, nicht verheiratete und kinderlose Kläger ist türkischer Staatsangehöriger. Er wuchs bei seinen Eltern auf. Sein Vater arbeitete in der Bundesrepublik Deutschland mindestens vom 7. Januar 1969 bis zum 14. Mai 1990 als Arbeitnehmer bei der Firma N. S. . Der Kläger besuchte zunächst eine Förderschule und im Anschluss daran das Berufsgrundschuljahr, das er im Jahre 1990 ohne Abschluss beendete. Eine Berufsausbildung absolvierte er nicht. Vom 13. August 1990 bis zum 6. September 1991 arbeitete er als Jungarbeiter bei der Firma M. . Nach über einem Jahr der Arbeitslosigkeit war er im Jahre 1992 noch einmal für drei Monate für einen weiteren Arbeitgeber tätig. In der Folgezeit war er wiederum arbeitslos, unterbrochen von zumeist nur wenigen Wochen der Erwerbstätigkeit in den Jahren 1998 bis 2001 und 2003. Dem Kläger wurden mehrere befristete Aufenthaltserlaubnisse ausgestellt, zuletzt bis zum 20. Oktober 1999. Der Verlängerungsantrag vom 12. Oktober 1999 wurde nicht mehr beschieden.
3Der Kläger ist drogenabhängig. Er konsumiert nach eigenen Angaben seit seinem dreizehnten Lebensjahr zunächst Haschisch und seit seinem sechzehnten Lebensjahr Heroin. Strafrechtlich ist er in erheblichem Maße in Erscheinung getreten: Nachdem im Januar 1989 ein Strafverfahren wegen gemeinschaftlichen Diebstahls nach § 45 Abs. 2 JGG a.F. eingestellt worden war, wurde er im Juni 1989 und März 1991 jeweils u.a. wegen Diebstahls im besonders schweren Fall schuldig gesprochen. Mit Urteil des Amtsgerichts C. vom 12. Mai 1992 wurde er wegen Besitzes und Handeltreibens mit Betäubungsmitteln (Heroin) zu einer Jugendstrafe von acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zunächst zur Bewährung ausgesetzt wurde (BZR-Nr. 1). Eine in zeitlichem Zusammenhang mit der Verurteilung durchgeführte Drogentherapie blieb ohne Erfolg. Auf die Anhörung der Beklagten zu einer beabsichtigten Ausweisung teilte der Kläger mit Schreiben vom 16. März 1995 mit, er habe während eines Besuchsaufenthaltes in der Türkei im Alter von 14 Jahren ohne Wissen seiner – anwesenden – Eltern eine A. E. geheiratet; aus der Ehe sei ein Sohn hervorgegangen, der jetzt fünf Jahre alt sei. Da er aufgrund seiner Drogenprobleme seine Ehefrau nicht nach Deutschland habe holen können, habe seine Ehefrau Streit mit ihren Eltern und Brüdern bekommen und sich schließlich das Leben genommen. Er habe daraufhin bestimmt, dass sein Sohn in ein Heim komme, was die Eltern seiner Ehefrau weiter erbost habe; bei einer Rückkehr in die Türkei habe er daher mit Rache bis hin zu seiner Tötung durch die Familie seiner Frau zu rechnen.
4Am 9. Januar 1993 wurde der Kläger in Untersuchungshaft genommen. Mit Urteil des Amtsgerichts C. vom 19. März 1993 wurde er wegen Anstiftung zur fortgesetzten Urkundenfälschung in Tateinheit mit fortgesetztem Betrug sowie wegen fortgesetzten Erwerbs von Heroin teilweise tateinheitlich mit fortgesetztem gewerbsmäßigem Handel von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unter Einbeziehung der Verurteilung aus dem vorgenannten Urteil zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und 10 Monaten verurteilt (BZR-Nr. 2). Die Strafe wurde vollstreckt. Unter Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung wurde der Kläger am 7. März 1994 aus der Haft entlassen.
5Ab dem 21. Juni 1994 befand sich der Kläger wieder in Haft. Mit Urteil des Amtsgerichts C. vom 26. Juli 1994 wurde er wegen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall (Einbruchdiebstahls) unter Einbeziehung der Freiheitsstrafe aus dem Urteil vom 19. März 1993 zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und einem Monat verurteilt (BZR-Nr. 3). Mit weiterem Urteil des Amtsgerichts C. vom 7. Februar 1995 wurde er wegen gemeinschaftlichen Diebstahls im besonders schweren Fall (Einbruchdiebstahls) in vier Fällen unter Einbeziehung der Strafe aus dem vorgenannten Urteil zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt (BZR-Nr. 4). Nach den in dem Urteil getroffenen Feststellungen beruhten die Straftaten auf der Drogenabhängigkeit des Klägers. Wegen des Erwerbs von Betäubungsmitteln und entweder falscher Verdächtigung oder uneidlicher Falschaussage verurteilte ihn das Amtsgericht C. mit Urteil vom 24. August 1995 zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten (nicht im BZR erfasst). Die Vollstreckung der Strafe wurde in der Annahme, der bisherige Strafvollzug habe auf den Kläger hinreichend eingewirkt, zur Bewährung ausgesetzt. Mit Strafbefehl vom 12. Oktober 1995 verhängte das Amtsgericht C. wegen des unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln in der JVA gegen den Kläger eine Geldstrafe von 15 Tagessätzen (BZR-Nr. 5). Am 21. Oktober 1995 wurde der Kläger aus der Haft entlassen.
6Vom 24. November 1995 bis zum 15. Mai 1996 befand sich der Kläger auf Veranlassung der JVA in stationärer Therapie in der Einrichtung N. in O. .
7In der Folgezeit wurde gegen den Kläger durch Strafbefehl des Amtsgerichts C. vom 17. September 1996 eine Geldstrafe wegen Hausfriedensbruchs festgesetzt (BZR-Nr. 6). Vom 9. Januar bis zum 21. April 1997 befand sich der Kläger aufgrund von Drogendelikten wieder in Untersuchungshaft. Am 21. April 1997 verurteilte ihn das Amtsgericht C. wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln (Heroin und Kokain) in zwei Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 5 Monaten, deren Vollstreckung es mit Rücksicht auf die Untersuchungshaft und im Hinblick auf die von dem Kläger geäußerte Therapiewilligkeit zur Bewährung aussetzte (BZR-Nr. 7). Im August 1997 unterzog sich der Kläger einer Entgiftungsbehandlung.
8Mit Strafbefehl des Amtsgerichts C. vom 1. September 1997 wurde gegen den Kläger wegen Sachbeschädigung eine Geldstrafe von 30 Tagessätzen verhängt (BZR-Nr. 8). Nachdem der Kläger unter Vorlage entsprechender Bescheinigungen angegeben hatte, seit der Entgiftung im August 1997 drogenfrei zu sein und einer Erwerbstätigkeit nachzugehen – die allerdings in dem von ihm vorgelegten Versicherungsverlauf keine Entsprechung findet – wies ihn die Beklagte mit Schreiben vom 25. September 1998 darauf hin, dass sie mit Rücksicht auf den Umstand, dass er im Bundesgebiet geboren und aufgewachsen sei, noch einmal von einer Ausweisung absehe, eine weitere Verurteilung jedoch mit großer Sicherheit eine Aufenthaltsbeendigung zur Folge haben werde.
9Am 12. Mai 1999 wurde gegen den Kläger wegen Drogendelikten Haftbefehl erlassen. In seiner Vernehmung nach der Festnahme am 11. Juni 1999 erklärte der Kläger unter Vorlage einer Bescheinigung des C. S. I. Krankenhauses in J. , er habe sich von Februar bis zum 9. Juni 1999 in der Türkei aufgehalten und dort eine Drogentherapie (Implantierung eines Depotmedikaments) durchgeführt. Mit Urteil des Amtsgerichts C. vom 5. August 1999 wurde der Kläger wegen unerlaubten Erwerbs von Heroin in zwei Fällen, in einem davon tateinheitlich mit unerlaubter Abgabe von Heroin zu einer Freiheitsstrafe von 7 Monaten, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt (BZR-Nr. 9). Mit weiterem Urteil vom 23. März 2000 verurteilte ihn das Amtsgericht C. wegen unerlaubten Erwerbs von Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten (BZR-Nr. 10). Die Vollstreckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt; gleichzeitig wurde dem Kläger die Auflage erteilt, sich einer Langzeittherapie zu unterziehen. Eine Aufnahme in der vorgesehenen Therapieeinrichtung unterblieb jedoch, weil der Kläger nicht bereit war, zur Finanzierung der Maßnahme eine Abtretungserklärung über die ihm gewährte Arbeitslosenhilfe zu unterschreiben. Lediglich eine Entgiftung erfolgte im Juni 2000 und auch dies nur anlässlich einer anderweitigen Krankenhausbehandlung. Die Bewährungshelferin des Klägers, Frau P. , teilte mit Schreiben an das Amtsgericht C. vom 14. Juni, 30. Juni und 24. Juli 2000 mit, dass der Kläger nur unter bestimmten Bedingungen in eine Therapie einwillige und daher eine Aufnahme in einer Einrichtung bislang nicht zustande gekommen sei. Eine kontinuierliche Zusammenarbeit, namentlich hinsichtlich der organisatorischen Abwicklung eines Therapieantrages habe nicht stattgefunden; der Kläger sei absolut unzuverlässig. Bei seinen Eltern halte er sich kaum auf; es komme regelmäßig zu Streitereien mit dem Vater, der sich in Begleitung eines Dolmetschers oft bei ihr über seinen Sohn beklagt habe. Auch Bemühungen, eigenen Wohnraum anzumieten, scheiterten an der Unzuverlässigkeit des Klägers.
10Am 6. Juli 2000 verurteilte ihn das Amtsgericht C. wegen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis zu einer Freiheitsstrafe von vier Monaten (BZR-Nr. 11).
11Von einer dem Kläger bereits im November 1999 erneut angedrohten Ausweisung sah die Beklagte zunächst ab, nachdem der Kläger seine Therapiebereitschaft bekundet hatte. Die Drogenberatungsstelle für den Kreis I1. hatte zuvor mit Schreiben vom 3. August 2000 an die damaligen Prozessbevollmächtigten des Klägers mitgeteilt, dass versucht werde, den Kläger in eine türkischsprachige Einrichtung zu vermitteln, wo auf seine Suchtproblematik unter Berücksichtigung seiner kulturellen Herkunft eingegangen werden könne. Im November 2000 unterzog sich der Kläger einer Entgiftungsbehandlung und begann anschließend eine stationäre Drogenentwöhnungstherapie in O. . Diese brach er Ende April 2001 vorzeitig ab, nachdem ihm eine disziplinarische Entlassung aufgrund wiederholter Regelverstöße angedroht worden war. Nachfolgend nahm er an einer ambulanten Therapie teil; nach dem Bericht der Einrichtung vom 25. Oktober 2001 hielt er jedoch zuletzt Termine nicht mehr ein, auch wurde die ambulante Therapie als unzureichend eingestuft. Ab dem 4. Dezember 2001 befand sich der Kläger zur Vollstreckung der Restfreiheitsstrafen wieder in Haft. Mit Urteil des Amtsgerichts O. vom 7. Dezember 2001 wurde der Kläger wegen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Monat und mit weiterem Urteil vom 5. März 2002 wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln unter Einbeziehung der Strafe aus dem vorgenannten Urteil zu einer Freiheitsstrafe von drei Monaten und zwei Wochen verurteilt (BZR-Nr. 12 und 13.). Unmittelbar nach seiner Haftentlassung aufgrund einer Zurückstellung der Vollstreckung der restlichen Strafe nach § 35 BtMG begann der Kläger eine Therapie; diese brach er jedoch nach drei Monaten vorzeitig ab. Daraufhin wurde er am 9. Januar 2003 wieder in Haft genommen. Am 14. August 2003 wurde er entlassen.
12Ab dem 28. Mai 2004 befand sich der Kläger zunächst in Untersuchungshaft, später in Strafhaft. Mit Urteil des Amtsgerichtes O. vom 14. Dezember 2004 wurde er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten wegen Diebstahls in zwei Fällen, Nötigung in zwei Fällen, versuchter Erpressung, falscher Verdächtigung und Beleidigung in zwei Fällen verurteilt (BZR-Nr. 14). Die Taten standen im Zusammenhang mit seiner Drogenabhängigkeit. Eine Therapie in der Haft kam nicht zustande, weil der Leiter der JVA ausweislich seiner Stellungnahme vom 15. Juni 2005 ein ehrliches Therapieinteresse des Klägers nicht feststellen konnte. Auf die Anhörung der Ausländerbehörde O. zu einer beabsichtigten Ausweisung teilte der Kläger mit Schreiben vom 14. Juli 2004 und 28. Februar 2005 im Wesentlichen mit, dass seine gesamte Familie in Deutschland lebe und er bis zu seiner Inhaftierung selbständig tätig gewesen sei. Sein Sohn sei im Jahre 2004 verstorben, woraufhin er sein eigenes Ich verloren und Mist gebaut habe. Auch habe er keine Verbindungen in die Türkei, da seine Ehefrau vor 13 Jahren verstorben sei. Aufgrund dieser Ausführungen namentlich zu der Bedeutung des Todes der Ehefrau und des Sohnes sah die Ausländerbehörde von einer Ausweisung vorerst ab und forderte ihn zu einer weiteren Therapie auf. Nach seiner Entlassung aus der Haft am 24. November 2005 begab sich der Kläger im Februar 2006 nach einer Entgiftung in Therapie, brach diese aber schon wenig später ab. Als Grund hierfür gab er Schwierigkeiten bei der Passbeschaffung an.
13Mit Strafbefehl vom 7. Februar 2006 verurteilte das Amtsgericht O. den Kläger zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen unerlaubten Aufenthaltes ohne Pass (BZR-Nr. 15). Im Oktober 2006 führte der Kläger eine Methadon-gestützte Entgiftung durch. Am 13. Januar 2007 wurde der Kläger bei einer Kontrolle festgenommen; dabei fanden die Beamten zwei Folienpacks mit Heroin und Kokain in seiner Krawatte. Seit diesem Tag befand sich der Kläger wieder in Haft. Am 5. April 2007 verurteilte ihn das Amtsgericht O. wegen gemeinschaftlicher Sachbeschädigung und Diebstahl zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten und zwei Wochen (BZR-Nr. 16). Mit Urteil des Amtsgerichtes N1. wurde der Kläger am 8. Juni 2007 wegen Besitzes von Heroin und Kokain unter Einbeziehung der vorstehenden Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt (BZR-Nr. 17); das Strafmaß wurde mit Urteil des Landgerichts N1. vom 20. Dezember 2007 auf zwei Jahre und drei Monate abgeändert. Das Amtsgericht C. verurteilte den Kläger mit Urteil vom 2. Juli 2007 zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten wegen gemeinschaftlichen versuchten Diebstahls in einem besonders schweren Fall (versuchter Einbruchdiebstahl) (BZR-Nr. BZR-Nr. 18). Mit Beschluss vom 28. November 2008 setzte das Amtsgericht N1. unter Einbeziehung der Strafen aus den drei vorgenannten Verurteilungen eine Gesamtstrafe von drei Jahren fest (BZR-Nr. 19). Auf die Anhörung zur beabsichtigten Ausweisung teilte der Kläger mit Schreiben vom 12. März 2008 mit, sein damals 12-jähriger Sohn sei im Jahre 2006 an einer Gehirnblutung verstorben; dies habe er nach dem Selbstmord seiner Ehefrau im Jahre 1988 nicht mehr verarbeiten können; er habe sich töten wollen und wieder Drogen genommen. Zuvor sei er mit einem Imbissstand in O. ziemlich erfolgreich gewesen. Er habe sich jetzt um einen Therapieplatz beworben. Aufgrund des bevorstehenden Therapiebeginns sah die Beklagte von der Ausweisung ab. Nachdem die Vollstreckung der restlichen Freiheitsstrafe gemäß § 35 BtMG zurückgestellt worden war, wurde der Kläger am 28. April 2008 aus der Haft entlassen und begann am 2. Mai 2008 zunächst eine Entgiftung im Evangelischen Krankenhaus für Psychiatrie und Psychotherapie (Station H. IV) in C. . Am 14. Mai 2008 flüchtete er. Zur Begründung hierfür führte der Kläger mit Schreiben vom 8. September 2008 aus, er habe erfahren, dass die Einrichtung, in der er anschließend habe therapiert werden sollen, ihn nicht habe aufnehmen können. Daher habe er die Klinik aufgrund einer Kurzschlusshandlung verlassen in der Hoffnung, in Freiheit eine schnellere Therapieaufnahme erreichen zu können. Nach seiner Festnahme am 25. Juli 2008 wurde der Kläger erneut in Haft genommen. Der ihn betreuende Sozialpädagoge gab unter dem 29. Januar 2009 an, der Kläger habe ihm gegenüber geäußert, dass seine kleine Schwester Schande über die Familie gebracht habe, weil sie mit einem neuen Mann zusammenlebe, obwohl sie noch verheiratet sei; ihre Kinder habe sie in ein Heim gebracht. Er habe ihr eine Frist gesetzt, die "Dinge" wieder in Ordnung zu bringen. Geschehe dies nicht, sei es seine Pflicht, alle umzubringen. Dafür gehe er gerne wieder in Haft. Gegen den Kläger ergingen während seiner Inhaftierung zwei Disziplinarmaßnahmen, u.a. wegen Bedrohung eines Bediensteten der JVA. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts C. vom 23. September 2008 wurde der Kläger wegen Erschleichens von Leistungen zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen verurteilt (BZR-Nr. 20).
14Nach Anhörung des Klägers wies die Beklagte ihn mit Bescheid vom 16. September 2008 unbefristet aus dem Bundesgebiet aus und drohte ihm die Abschiebung in die Türkei ohne Fristsetzung unmittelbar aus der Haft heraus an. Für den Fall, dass der Kläger vor der Abschiebung aus der Haft entlassen werde, forderte sie ihn zur Ausreise binnen eines Monats nach Haftentlassung auf und drohte ihm im Falle nicht fristgerechter Ausreise die Abschiebung an. Zur Begründung führte sie aus, über die Ausweisung des Klägers sei nach Ermessen zu entscheiden, weil er als Kind türkischer Arbeitnehmer nach dem Assoziationsratsbeschluss 1/80 aufenthaltsberechtigt sei. Aufgrund seiner Geburt im Bundesgebiet genieße er besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG. Sein in den begangenen Straftaten zum Ausdruck gekommenes Verhalten stelle eine hinreichend schwere Gefährdung dar. Er sei in der Vergangenheit mehrfach straffällig geworden und habe sich dabei weder durch strafrechtliche Verurteilungen noch durch ausländerbehördliche Ermahnungen und Hinweise auf die Konsequenzen erneuten strafbaren Verhaltens von der Verübung weiterer Taten abhalten lassen. Die Rückfallgeschwindigkeit sei sehr hoch. Das Amtsgericht C. habe die zuletzt verhängte Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, weil davon auszugehen sei, dass der Kläger nach der Haftentlassung erneut straffällig werde. Und auch die Zurückstellung der Vollstreckung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts N1. vom 8. Juni 2007 habe widerrufen werden müssen, weil der Kläger sich nicht an die Auflagen gehalten, sondern das Krankenhaus eigenmächtig verlassen habe. Zudem habe er in den letzten Jahren keine ernsthaften Bemühungen unternommen, um von seinem Drogenkonsum loszukommen. Ferner sei zu berücksichtigen, dass eine Verwurzelung des Klägers im Bundesgebiet in wirtschaftlicher Hinsicht nicht erfolgt sei. Er verfüge weder über einen Schul- noch über einen Berufsabschluss. Zwar habe er zwischenzeitlich eine Erwerbstätigkeit ausgeübt und sei kurzzeitig auch selbständig tätig gewesen. Er habe es jedoch nicht geschafft, langfristig auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.
15Der Kläger hat am 21. Oktober 2008 Klage erhoben. Zur Begründung hat er geltend gemacht, seine Ausweisung sei schon deshalb rechtswidrig, weil der in Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG geregelte Ausweisungsschutz für Unionsbürger auf ihn als assoziationsrechtlich Privilegierten zu übertragen sei. Dies habe zur Folge, dass eine Ausweisung nur bei Vorliegen der in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU festgelegten zwingenden Gründe zulässig sei. Diese seien jedoch nicht gegeben. Doch auch unabhängig hiervon erweise sich seine Ausweisung als rechtswidrig. Er lebe seit seiner Geburt in Deutschland, sei bei verschiedenen Firmen lange Zeit einer Erwerbstätigkeit nachgegangen und zwischenzeitlich auch selbständig tätig gewesen. Seine gesamte Familie lebe in Deutschland; einige Familienmitglieder seien eingebürgert. In der Türkei habe er keine Verwandten mehr. Vor diesem Hintergrund sei unter Zugrundelegung der Ausführungen in der Entscheidung des BVerwG vom 23. Oktober 2007 1 C 10.07 von seiner Ausweisung abzusehen gewesen. Zudem sei seine besondere Lebensgeschichte zu berücksichtigen: Seine Ehefrau sei bereits im Alter von 17 Jahren, der gemeinsame Sohn im Alter von 12 Jahren verstorben. Vor allem der Tod seines Sohnes habe dazu geführt, dass er seine selbständige Tätigkeit aufgegeben und letztlich den Drogenkonsum wieder aufgenommen habe. Seine Straftaten fielen überdies lediglich maximal in den Bereich der mittleren Kriminalität. Ferner sei zu berücksichtigen, dass er sich noch immer bemühe, seine Drogenabhängigkeit zu bekämpfen. Zwar sei er von der Ausländerbehörde der Stadt O. im Jahre 2005 verwarnt worden, doch sei er gerade in diesem Jahr aufgrund des Todes seines damals 12-jährigen Sohnes erneut rückfällig geworden. Hinsichtlich des Ehrenmordes sei er falsch verstanden worden. Er halte inzwischen Ehrenmorde für falsch und habe nichts anderes geäußert.
16Der Kläger hat beantragt,
17den Bescheid der Beklagten vom 16. September 2008 aufzuheben.
18Die Beklagte hat beantragt,
19die Klage abzuweisen.
20Zur Begründung hat sie ihre Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid wiederholt und vertieft und darüber hinaus geltend gemacht, angesichts der guten deutschen Sprachkenntnisse des Klägers und der eindeutigen Schilderung des JVA-Bediensteten sei seine Behauptung, hinsichtlich der Ehrenmorde falsch verstanden worden zu sein, unglaubhaft. Die Äußerung belege vielmehr, dass der Kläger mit der deutschen Rechtsordnung nicht vereinbare Wert- und Moralvorstellungen habe und zudem zu Gewaltbereitschaft neige, was die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr nachdrücklich belege.
21Das Verwaltungsgericht hat die Klage durch das angefochtene Urteil abgewiesen. Die Ausweisung sei ungeachtet des Umstandes, dass ein Widerspruchsbescheid nicht ergangen sei, verfahrensfehlerfrei zustande gekommen. Zwar habe Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG, der auf Berechtigte nach dem ARB 1/80 entsprechend anwendbar gewesen sei, im Grundsatz ein zweistufiges Prüfungsverfahren gefordert, in dem neben der Rechtmäßigkeit der aufenthaltsbeendenden Entscheidung auch deren Zweckmäßigkeit zu überprüfen gewesen sei. Diese Regelung sei jedoch mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben worden. Eine Nachwirkung im Sinne eines europarechtlichen Bestandsschutzes entfalte die Richtlinie nicht. Die Nachfolgeregelung in Art 31 der Richtlinie 2004/38/EG enthalte sofern sie überhaupt auf den Kläger anwendbar sei keine vergleichbare Verfahrensgarantie. Die von der Beklagten getroffene Ermessensentscheidung sei nicht zu beanstanden. Bei dem Kläger bestehe weiterhin die konkrete Gefahr der Verübung schwerwiegender Straftaten. Er sei Bewährungsversager und über Jahrzehnte hinweg mit Drogendelikten in Erscheinung getreten. Therapiemaßnahmen habe er abgebrochen. Die Verbüßung von Freiheitsstrafen habe ihn ebenfalls nicht von der Verübung weiterer einschlägiger Straftaten abgehalten. Das kontinuierliche strafrechtsrelevante Verhalten zeige vielmehr, dass der Kläger seine eigenen Wert- und Moralvorstellungen über die deutsche Rechtsordnung stelle. Schließlich sei auch keine Perspektive wie etwa die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nach der Haftentlassung ersichtlich. Zugunsten des Klägers sei zwar zu berücksichtigen, dass er im Bundesgebiet geboren worden und aufgewachsen sei. Jedoch habe eine Sozialisation in die hiesigen Verhältnisse dennoch nicht stattgefunden. Er habe weder eine Schul- noch eine Berufsausbildung abgeschlossen. Demgegenüber sei zu berücksichtigen, dass er der türkischen Sprache offenbar mächtig sei, so dass ihm eine Integration in die Verhältnisse des Landes seiner Staatsangehörigkeit möglich sei. Auf die materiellen Beschränkungen des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG könne sich der Kläger nach der Rechtsprechung des OVG NRW nicht berufen.
22Gegen das dem Kläger am 26. März 2009 zugestellte Urteil hat dieser am 16. April 2009 die Zulassung der Berufung beantragt. Mit Beschluss vom 19. Juni 2009, dem Kläger zugestellt am 24. Juni 2009, hat der Senat die Berufung zugelassen.
23Der Kläger ist am 6. April 2010 aus der Strafhaft entlassen und mit Beschluss des Landgerichts C. vom 17. März 2010 für die Dauer von zwei Jahren unter Führungsaufsicht gestellt worden. Der Leiter der JVA hat in seiner Stellungnahme vom 1. Februar 2010 an die Strafvollstreckungskammer ausgeführt, dass für den Fall, dass der Kläger nicht unmittelbar nach der Haftentlassung in eine stationäre Therapie gehen könne, eine günstige Legal- oder Sozialprognose nicht gestellt werden könne. In einem weiteren Schreiben an den seinerzeitigen Prozessbevollmächtigten des Klägers vom 1. März 2010 heißt es weiter, der Kläger arbeite nicht konstruktiv an der Vorbereitung der Entlassung mit; Hilfsangebote des Sozialdienstes habe er abgelehnt. Aus den Berichten seines Bewährungshelfers, Herrn I2. , geht hervor, dass der Kläger bereits kurze Zeit nach der Haftentlassung wieder rückfällig geworden ist. Den anfangs regelmäßigen Kontakt zu seinem Bewährungshelfer hat der Kläger nach einem Gespräch am 7. Dezember 2010 abgebrochen, in dem er mitgeteilt hatte, dass er in erheblichem Maße rückfällig geworden sei, jedoch keine Möglichkeit habe, auf der Station H. IV des Evangelischen Krankenhauses C. eine Entgiftung durchzuführen, weil er dort wegen in der Vergangenheit gezeigter Auffälligkeiten nicht mehr aufgenommen werde. Zu diesem Zeitpunkt hat er sich nach den Ausführungen des Herrn I2. offensichtlich wieder überwiegend in der Drogenszene aufgehalten; auch sind mehrere Ermittlungsverfahren gegen ihn geführt worden. Mit Strafbefehl vom 2. Februar 2011 hat das Amtsgericht C. eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen wegen Erschleichens von Beförderungsleistungen gegen ihn festgesetzt (BZR-Nr. 21). Nachdem der Kläger im März/April 2011 den Kontakt zu seinem Bewährungshelfer wieder aufgenommen und in gesundheitlich angegriffenem Zustand angekündigt hatte, eine Entgiftung und ggf. auch eine Therapie durchführen zu wollen, hat er in der Folgezeit den Kontakt wieder abgebrochen. Ab dem 17. September 2011 hat er eine Ersatzfreiheitsstrafe aus dem Strafbefehl vom 2. Februar 2011 verbüßt. Im Dezember 2011 hat er sich bei der Bewährungshilfe gemeldet und angekündigt, nun endgültig eine stationäre Therapie einleiten zu wollen. Am 15. Dezember 2011 ist er in Untersuchungshaft genommen worden. Mit Urteil des Amtsgerichts C. vom 9. Januar 2012 (39 Ds 43 Js 609/11-1124/11) ist der Kläger wegen Erschleichens von Beförderungsleistungen in sechs Fällen, versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall in zwei Fällen (versuchte Kaufhausdiebstähle) und Diebstahls im besonders schweren Fall in zwei Fällen (Kaufhausdiebstähle) zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden (BZR-Nr. 22). Die Diebstahlstaten hat der Kläger nach den Feststellungen im Urteil begangen, um seinen Lebensunterhalt, namentlich seine Drogensucht zu finanzieren. Insoweit ist bei der Strafzumessung erschwerend berücksichtigt worden, dass der Kläger die Taten begangen hatte, während er unter Führungsaufsicht stand. Seit diesem Tag befindet sich der Kläger wieder in Strafhaft. Ein weiteres Strafverfahren ist gegen ihn anhängig: In erster Instanz hat ihn das Amtsgericht C. am 9. Januar 2012 (39 Ds-301 Js 110/11-2681/11) wegen zweifachen Diebstahls im besonders schweren Fall sowie wegen versuchten Diebstahls im besonders schweren Fall zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. In den Gründen ist ausgeführt, der Kläger befinde sich zwar seit einem Jahr in einer Substitutionstherapie, nehme aber daneben regelmäßig Drogen; täglich konsumiere er drei bis vier Gramm Heroin und vier Gramm Kokain. Nach dem Bericht des Bewährungshelfers habe der Kläger erst unter dem Druck der anstehenden Hauptverhandlung wieder Kontakt mit ihm aufgenommen. Bei der Drogenberatungsstelle habe er derzeit Hausverbot wegen einer Auseinandersetzung. Die Behauptung des Klägers, er habe einen Antrag auf eine stationäre Therapie gestellt, sei nicht zutreffend. Er habe lediglich einen Antrag für die Krankenkasse ausgefüllt, diesen aber nicht eingereicht. Das Gericht kommt zu der Feststellung, dass aufgrund der fortgesetzten Begehung von Straftaten eine positive Sozialprognose nicht möglich sei.
24Der Aufforderung des Senats, detaillierte Angaben zu seinen Familienverhältnissen namentlich der Ehefrau und des Sohnes zu machen und diese zu belegen, ist der Kläger nicht nachgekommen. Er hat lediglich mitgeteilt, er habe eine T. B. B1. 1988 oder 1989 nach religiösen Vorschriften geheiratet. Geboren sei sie am 28. Mai oder 28. Juni 1973 und verstorben im Jahre 1995. Ihre Eltern seien mit der Verbindung nicht einverstanden gewesen und hätten sie mit einem anderen Mann verheiraten wollen. Aus diesem Grunde habe sie Suizid verübt. Sein Sohn habe U. E. B. B1. geheißen; er sei 1992 geboren worden. Gestorben sei er 2006 an einer Hirnblutung.
25Die Vertreterin der Beklagten hat in der mündlichen Verhandlung des Senats die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung neu gefasst. Diesbezüglich wird auf den Inhalt des Protokolls der mündlichen Verhandlung vom 22. März 2012 verwiesen.
26Zur Begründung seiner Berufung wiederholt und vertieft der Kläger sein erstinstanzliches Vorbringen und führt ergänzend aus, bei den von ihm begangenen Straftaten handele es sich allenfalls um mittlere Kriminalität und im Übrigen ganz überwiegend um Beschaffungskriminalität zur Finanzierung seines Drogenkonsums. Dass er sich ernsthaft und ausdauernd bemühe, eine Therapie anzutreten und darüber hinaus nach einem Suizidversuch in der JVA in psychotherapeutischer Behandlung sei, spreche gegen eine Wiederholungsgefahr. Außerdem würde die bereits zitierte Rechtsprechung des BVerwG, der zufolge in Deutschland geborene und aufgewachsene Personen lediglich nach Ermessen ausgewiesen werden dürften, regelmäßig ausgehebelt, wenn die Schwere der Straftat maßgeblich berücksichtigt würde.
27Der Kläger beantragt ,
28das angefochtene Urteil zu ändern und den Bescheid der Beklagten vom 16. September 2008 in der hinsichtlich der Abschiebungsandrohung durch die Erklärung in der mündlichen Verhandlung geänderten Fassung aufzuheben.
29Die Beklagte beantragt,
30die Berufung zurückzuweisen.
31Sie führt aus, die Ankündigung eines Ehrenmordes durch den Kläger belege, dass er die hiesigen Lebensverhältnisse ablehne und weiterhin in Denkweisen, Wert- und Moralvorstellungen verwurzelt sei, die mit der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland nicht vereinbar seien. Vor diesem Hintergrund habe auch insoweit eine Integration in die hiesige Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht stattgefunden.
32Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, der beigezogenen Strafakten, des Heftes über die Führungsaufsicht und der Gefangenenpersonalakten verwiesen.
33Entscheidungsgründe:
34Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.
35Das Verwaltungsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Die Ausweisungsverfügung der Beklagten vom 16. September 2008 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
36Die im Ermessen der Beklagten stehende Ausweisung ist verfahrensfehlerfrei zustande gekommen. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen die Verfahrensgarantien des Art. 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 (ABl. 1964, Nr. 56, S. 850) vor.
37Nach Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG trifft die Verwaltungsbehörde in Fällen, in denen entweder keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Gesetzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung haben, die Entscheidung über die Verweigerung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines Inhabers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme der zuständigen Stelle des Aufnahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen und vertreten lassen kann (sog. Vier-Augen-Prinzip).
38Diese Verfahrensanforderungen, die nach Art. 1 der Richtlinie unmittelbar nur für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft sowie deren Ehegatten und Familienangehörige galten, fanden auf türkische Staatsangehörige, die ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrates EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation – ARB 1/80 – besitzen, entsprechende Anwendung.
39Vgl. EuGH, Urteil vom 2. Juni 2005 C-136/03 [Dörr und Ünal] , InfAuslR 2005, 289.
40Dies hatte zur Folge, dass in Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie in Deutschland außer in dringenden Fällen verletzt wurde, wenn weder ein Widerspruchsverfahren nach den §§ 68 ff. VwGO stattfand, noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Verwaltungsverfahren eingeschaltet wurde. Denn das deutsche Rechtsschutzsystem sieht auch bei Ermessensentscheidungen nur eine Kontrolle der "Gesetzmäßigkeit" der Ausweisungsverfügung vor, nicht aber eine Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten.
41Vgl. BVerwG, Urteil vom 13. September 2005 1 C 7.04 , InfAuslR 2006, 110.
42Dass die Ausweisung des Klägers infolge des Wegfalls des Widerspruchsverfahrens in Nordrhein-Westfalen mit Wirkung vom 1. November 2007 (GV NRW 2007, 393) nicht auf ihre Zweckmäßigkeit hin kontrolliert worden ist, führt jedoch nicht zu ihrer Rechtswidrigkeit. Zwar hat der Kläger wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen die Rechtsstellung nach Art. 7 Satz 1 zweiter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben, weil er in der Bundesrepublik Deutschland geboren wurde und anschließend fünf Jahre bei seinem Vater lebte, der zu dieser Zeit als türkischer Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt angehörte. Die Geburt und der dauernde Aufenthalt im Bundesgebiet stehen der Zuzugsgenehmigung aus Gründen des Familiennachzugs gleich.
43Vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2004 C-467/02 [Cetinkaya] , http://curia.europa.eu/
44Die Richtlinie 64/221/EWG ist jedoch durch Art. 38 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 bereits mit Wirkung vom 30. April 2006 aufgehoben worden (Richtlinie über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG (ABl. L Nr. 158 vom 30. April 2004, S. 77, berichtigt ABl. L Nr. 229 vom 29. Juni 2004, S. 35 und ABl. L Nr. 204 vom 4. August 2007, S. 28)). Damit bemaß sich die Richtlinie 64/221/EWG zum Zeitpunkt des Erlasses der streitgegenständlichen Ausweisungsverfügung am 16. September 2008 keine Geltung mehr bei und konnte auf diese keine Anwendung finden.
45So zur Frage der Fortgeltung der in Art. 3 der RL 64/221/EWG aufgestellten Grundsätze: EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 C-371/08 [Ziebell] , http://curia.europa.eu/.
46Der EuGH ist nicht den Stellungnahmen der Europäischen Kommission in den Rechtssachen Polat (C-349/06) vom 15. Dezember 2006 und Ziebell (vormals Örnek C-371/08) vom 2. Dezember 2008 gefolgt. Diese hat die Auffassung vertreten, bei der Auslegung aufenthaltsrechtlicher Bestimmungen des Assoziationsabkommens oder darauf gestützter Rechtsakte wie Art. 14 ARB 1/80 sei davon auszugehen, dass die Vertragsparteien in Bezug auf die Freizügigkeit türkischer Arbeitnehmer in etwa dasselbe Schutzniveau verwirklichen wollten, welches in der Richtlinie 64/221/EWG seinerzeit verwirklicht worden sei, woraus zu folgern sei, dass die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG auf die Auslegung des Assoziationsabkommens und der aufgrund dessen erlassenen Rechtsakte keinen Einfluss haben könne.
47Vgl. Urteil vom 8. Dezember 2011 C-371/08 [Ziebell] , a.a.O; vgl. aber auch schon zuvor Urteil vom 9. Dezember 2010 C-300/09 und C-301/09 [Toprak und Oguz] ZAR 2011, 58.
48Eine andere Betrachtung ist auch nicht im Hinblick auf die sog. Stillhalteklauseln in Art. 13 ARB 1/80 oder Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Abkommen vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei für die Übergangsphase der Assoziation (BGBl. 1972 II, S. 385) ZP geboten, wobei hinsichtlich der letztgenannten Bestimmung offen bleiben kann, ob sie im Falle des Klägers, der schon nicht nachgewiesen hat, ob, wann, in welcher Weise und in welchem Umfang er selbständig tätig gewesen ist, überhaupt Anwendung findet. Denn Inhalt und Reichweite des Art. 41 Abs. 1 ZP entsprechen denen des Art. 13 ARB 1/80.
49Vgl. EuGH, Urteile vom 9. Dezember 2010 C-300/09 und C-301/09 [Toprak und Oguz] , a.a.O. und vom 17. September 2009 C-242/06 [Sahin] , http://curia.europa.eu/.
50Die Stillhalteklauseln beanspruchen im vorliegenden Fall jedoch keine Geltung. Dabei kann offen bleiben, ob der Wegfall der Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG durch die Aufhebung der Richtlinie schon keine neue "Beschränkung" im Sinne des Art. 13 ARB 1/80 bzw. des Art. 41 Abs. 1 ZP darstellt, mit der Folge, dass die jeweilige Standstillklausel bereits aus diesem Grunde nicht zur Anwendung gelangt, oder ob wofür Einiges sprechen dürfte der Fortfall der Zweckmäßigkeitskontrolle infolge der damit einhergehenden Verminderung des Prüfungsumfangs bei Ausweisungsverfügungen ein im Sinne der Rechtsprechung des EuGH,
51vgl. Urteil vom 9. Dezember 2010 C-300/09 und C-301/09 [Toprak und Oguz] , a.a.O.,
52neues Hindernis für die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist, das eine Verschärfung der unter Geltung der Richtlinie 64/221/EWG bestehenden Bedingungen darstellt.
53A.A. VGH BW, Urteil vom 10. Februar 2012 11 S 1361/11 , juris; mit Blick auf den Adressatenkreis der Stillhaltehalteverpflichtungen dürfte insoweit jedoch eine mitgliedstaats-bezogene und nicht lediglich eine regionale Betrachtung geboten sein.
54Auch im letztgenannten Fall kommen die Verfahrensgarantien nicht mehr zur Anwendung. Denn eine über die Stillhalteklauseln bewirkte Fortgeltung der infolge ihrer Aufhebung auf Unionsbürger nicht mehr anwendbaren Verfahrensbestimmungen des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG ausschließlich für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige verstieße gegen das sog. Besserstellungsverbot in Art. 59 ZP. Diese Vorschrift bestimmt, dass der Türkei (hier: türkischen Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen) in den von dem Zusatzprotokoll erfassten Bereichen (hier: Freizügigkeit der Arbeitnehmer) keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft aufgrund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft untereinander einräumen. Hiervon ausgehend hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung ausgeführt, dass der Erlass neuer belastender Vorschriften, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, nicht im Widerspruch zu einer der Stillhalteklauseln in den von der Assoziation EWG-Türkei erfassten Bereichen steht, und dass eine Anwendung solcher Bestimmungen ausschließlich auf Gemeinschaftsangehörige dazu führe, dass türkische Staatsangehörige sich in einer günstigeren Position als Gemeinschaftsangehörige befänden, was offenkundig gegen Art. 59 ZP verstieße.
55Vgl. Urteile vom 29. April 2010 C-92/07 [Kommission ./. Niederlande] , InfAuslR 2010, 270, vom 17. September 2009 C-242/06 [Sahin] und vom 19. Februar 2009 C-228/06 [Soysal und Savatli] , jew. http://curia.europa.eu/.
56Wird aber wie vorliegend Unionsbürgern durch die Aufhebung der Richtlinie 64/221/EWG eine sie begünstigende verfahrensrechtliche Stellung, wie sie Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie für aufenthaltsbeendende Maßnahmen vorsah, entzogen, so führte eine Weitergeltung der Vorschrift für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige zu einer solchen verbotenen Besserstellung im Sinne des Art. 59 ZP. Eine andere Betrachtungsweise würde im Übrigen namentlich angesichts des dynamischen Verständnisses, das der EuGH den Stillhalteklauseln beimisst,
57vgl. Urteil vom 9. Dezember 2010 C-300/09 und C-301/09 [Toprak und Oguz] a.a.O,
58dazu führen, dass sich für assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige im Laufe der Zeit ein gegenüber dem geltenden Recht der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten in unvertretbarer Weise verselbständigtes Rechtsregime herausbilden würde. Dies wäre mit dem in den Art. 2 Abs. 1 und Art. 12 des Assoziationsabkommens verfolgten Ziel, schrittweise die Freizügigkeit der türkischen Arbeitnehmer herzustellen und auf diese Weise eine Annäherung ihrer Rechtsposition an die derjenigen Arbeitnehmer, die Staatsangehörige der Mitgliedstaaten sind, zu bewirken, nicht zu vereinbaren, sondern liefe darauf hinaus, den türkischen Staatsangehörigen eine rechtliche Sonderstellung einzuräumen.
59Waren danach die Verfahrensgewährleistungen des Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 64/221/EWG vorliegend nicht mehr zu beachten, so kann im Weiteren offen bleiben, ob auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nunmehr die Verfahrensgarantien des Art. 31 der Richtlinie 2004/38/EG zur Anwendung gelangen oder ob aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Ziebell (Urteil vom 8. Dezember 2011 C-371/08 ) zu folgern ist, dass die Verfahrensgarantien in Art. 10 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (ABl. L Nr. 16 vom 23. Januar 2004, S 44) maßgeblich sind. Denn vorliegend sind sowohl die Bestimmungen der einen wie auch der anderen Vorschrift eingehalten worden.
60Die Ausweisung ist auch materiell rechtmäßig.
61Prüfungsmaßstab für die angefochtene Ausweisung ist § 55 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art 14 Abs. 1 ARB 1/80. Zwar verwirklicht der Kläger die Ausweisungstatbestände des § 53 Nr. 1 und 2 AufenthG. Als assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger darf er nach gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen jedoch nur aufgrund einer Ermessensentscheidung nach § 55 AufenthG ausgewiesen werden.
62Vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 1 C 29.02 , InfAuslR 2005, 26.
63Darüber hinaus genießt der Kläger aufgrund seiner Geburt im Bundesgebiet besonderen Ausweisungsschutz nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG mit der Folge, dass seine Ausweisung nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zulässig ist (§ 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG).
64Auf den weitergehenden erhöhten Ausweisungsschutz in § 6 Abs. 5 Satz 3 FreizügG/EU, den der deutsche Gesetzgeber in Umsetzung des Art. 28 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG normiert hat, kann sich der Kläger nicht berufen, weil der gemeinschaftsrechtliche Ausweisungsschutz auf assoziationsberechtigte türkische Staatsangehörige nicht übertragbar ist.
65Vgl. EuGH, Urteil vom 8. Dezember 2011 C-371/08 [Ziebell] , a.a.O.
66Zur Bestimmung des Umfangs der in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 enthaltenen Schranke der öffentlichen Ordnung ist nach Aufhebung des Art. 3 der Richtlinie 64/221/EWG nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 8. Dezember 2011 C-371/08 ) nunmehr auf Art. 12 der Richtlinie 2003/109/EG zurückzugreifen. Danach können assoziationsrechtlich privilegierte türkische Staatsangehörige wie schon zuvor,
67vgl. EuGH, Urteil vom 4. Oktober 2007 C-349/06 [Polat] , http://curia.europa.eu/ ,
68nur ausgewiesen werden, wenn ihr individuelles Verhalten eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefährdung für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzungen darf eine strafrechtliche Verurteilung nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihr zugrunde liegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt und auf die konkrete Gefahr von weiteren schweren Störungen der öffentlichen Ordnung hindeutet. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen dürfen daher nicht automatisch aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung zum Zweck der Generalprävention angeordnet werden.
69Vgl. EuGH, Urteile vom 8. Dezember 2011 C-371/08 [Ziebell] , a.a.O. und vom 4. Oktober 2007 C-349/06 [Polat] , a.a.O.
70Das Verhalten des Klägers stellt eine Gefährdung im vorgenannten Sinne dar, so dass im Übrigen auch schwerwiegende Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung i.S.d. § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG gegeben sind. Dies ergibt sich einmal aus der Art und Schwere der von ihm begangenen Straftaten, die überwiegend aus dem Bereich der Betäubungsmittelkriminalität stammen, und neben dem Besitz sog. harter Drogen,
71vgl. EuGH, Urteile vom 10. Februar 2000 C-340/97 [Nazli] und vom 19. Januar 1999 C-348/96 [Calfa] , http://curia.europa.eu/, jew. hinsichtlich des Eigenverbrauchs von Betäubungsmitteln,
72auch den teilweise gewerbsmäßigen Handel mit Heroin umfassen, den der Kläger zur Finanzierung seines eigenen Bedarfes betrieb. Dabei kommt insbesondere dem Heroinhandel im Hinblick auf die besondere Gefährlichkeit dieser Droge, die in schwerwiegender Weise Gesundheit und Leben anderer Menschen bedroht, maßgebliches Gewicht zu. Der Schutz der Bevölkerung vor Betäubungsmitteln ist ein besonders gewichtiges Grundanliegen der Gesellschaft.
73Vgl. EGMR, Urteil vom 30. November 1999 34374/97 [Baghli] , InfAuslR 2000, 53.
74Aber auch die weiteren Straftaten vorwiegend aus dem Bereich der Beschaffungskriminalität sind zum einen angesichts der wirtschaftlichen Folgen der Beschaffungskriminalität, zum anderen mit Blick auf die teilweise eingesetzte kriminelle Energie, wie sie etwa in den teils versuchten, teils vollendeten Einbrüchen in die Pkws oder dem versuchten Einbruch in den Backshop am 7. August 2006 zum Ausdruck kommt, ebenfalls von einigem Gewicht. Darüber hinaus folgt diese Bewertung des Verhaltens des Klägers aus der erheblichen Anzahl der Straftaten, und dem langen Zeitraum von nunmehr über 22 Jahren, in dem er im Wesentlichen unterbrochen nur von Zeiten der Strafhaft die Straftaten kontinuierlich begangen hat.
75Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 8. Januar 2009 10606/07 [Grant] , InfAuslR 2010, 89.
76Dass einige der verübten Straftaten für sich genommen nicht die erforderliche Schwere aufweisen, fällt demgegenüber nicht maßgeblich ins Gewicht. Bedeutung erlangt im Weiteren allerdings der Umstand, dass sich der Kläger durch nichts von der Begehung weiterer Straftaten hat abhalten lassen. Weder die unter dem 25. September 1998 und dem 19. Mai 2005 ausgesprochenen ausländerbehördlichen Ermahnungen und die Anhörungen zu der beabsichtigten Ausweisung, noch die Bewährungsaussetzungen, die Einrichtung einer Bewährungsaufsicht und einer Führungsaufsicht und letztlich nicht einmal die mehrfach verbüßten Freiheitsstrafen haben ihn zu einem Umdenken bewegen können. Dass er schließlich sogar trotz der ausgesprochenen Ausweisung und des anhängigen Gerichtsverfahrens weitere Straftaten begangen hat,
77vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 13. Oktober 2011 41548/06 [Trabelsi] http://www.bmj.de/Shared-Docs/EGMR/DE/20111013_41548_06.html,
78lässt den hinreichend sicheren Schluss darauf zu, dass von dem Kläger, gegen den im Übrigen derzeit noch mindestens ein weiteres Strafverfahren anhängig ist, nach wie vor eine Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten ausgeht.
79Anhaltspunkte für eine grundlegende Verhaltensänderung des Klägers in Bezug auf seine Drogenabhängigkeit, die eine andere Einschätzung rechtfertigen könnte, sind nicht ersichtlich. Der Kläger hat zwar insbesondere in Zeiten seines angegriffenen Gesundheitszustandes zahlreiche Entgiftungen durchgeführt. Nachhaltige Bestrebungen, sich aus der Betäubungsmittelabhängigkeit zu lösen, sind jedoch nicht erkennbar. So scheiterte im Mai 2000 schon seine Aufnahme in eine Therapieeinrichtung, weil er nicht bereit war, sich in zumutbarem Umfang nämlich hinsichtlich der ihm gewährten Arbeitslosenhilfe an den Kosten für die Therapie zu beteiligen. Die am 11. Dezember 2000 begonnene Therapie in der Einrichtung der N. in O. hat er abgebrochen, nachdem er wiederholt gegen die Regeln der Einrichtung verstoßen hatte und ihm deshalb eine disziplinarische Entlassung angedroht worden war. Die anschließende ambulante Therapie hat er nach kurzer Zeit ebenfalls abgebrochen. Gleiches gilt mit Blick auf die am 10. September 2002 begonnene Therapie in der Klinik F. und eine weitere im Februar/März 2006. Soweit der Kläger insoweit Schwierigkeiten bei der Beschaffung eines neuen türkischen Reisepasses angeführt hat, liegt auf der Hand, dass dieser noch dazu nicht näher substantiierte Anlass einen Abbruch der Therapie nicht zu rechtfertigen vermag. Aus der Therapieeinrichtung des Evangelischen Krankenhauses C. flüchtete der Kläger schließlich. Seine Behauptung, er habe versucht, "in Freiheit" schneller eine Therapieaufnahme erreichen zu können, ist abwegig. Im Übrigen hat der Kläger weder vorgetragen noch belegt, sich in den 2 ½ Monaten bis zu seiner Festnahme um einen Therapieplatz bemüht zu haben. Dieses Verhalten hat der Kläger bis heute nicht geändert. Nach den Mitteilungen seines Bewährungshelfers, zu dem er unter Verstoß gegen die Auflage in dem Beschluss des Landgerichts C. vom 17. März 2010 über die Einrichtung einer Führungsaufsicht den Kontakt mehrfach abgebrochen hat, hat er zwar mehrfach angekündigt, eine Therapie absolvieren zu wollen, bis zuletzt (Januar 2012) jedoch nicht einmal einen Kostenübernahmeantrag bei der Krankenkasse eingereicht. Soweit der Kläger in der mündlichen Verhandlung vom 22. März 2012 unter Vorlage u.a. einer Bescheinigung des Caritasverbandes im Kreisdekanat X. vom 21. März 2012 geltend gemacht hat, sich nunmehr um eine Entwöhnungsbehandlung zu bemühen, sind seine Bestrebungen was auch sein bislang gezeigtes Verhalten nahelegt ersichtlich dem vorliegenden Verfahren geschuldet. Vor diesem Hintergrund sind nicht einmal ansatzweise ernsthafte Bestrebungen des Klägers, sich von seiner Drogensucht zu lösen, erkennbar; erst Recht ist eine nachhaltige Verhaltensänderung, die allein geeignet wäre, eine positive Prognose begründen zu können, nicht festzustellen.
80In diesem Zusammenhang sind auch die Angaben des Klägers zu seinen Familienverhältnissen bedeutsam. So fällt auf, dass der Kläger nicht allein in diesem Verfahren, sondern durchgehend bei seinen polizeilichen Vernehmungen wie auch in den jeweiligen Hauptverhandlungen der Strafverfahren den Tod von Ehefrau und Sohn als maßgebliche Ursache für seine Drogensucht anführt. Seine Angaben hierzu sind jedoch durchgehend wechselnd und in sich widersprüchlich. So soll seine Ehefrau einmal im Jahre 1991 im Alter von 17 Jahren Selbstmord verübt haben (so die Angaben bei seiner Vernehmung am 20. Dezember 2001 und im Schreiben vom 14. Juli 2004), mal im Jahre 1992 (so laut seinem Schreiben an die Ausländerbehörde der Stadt O. vom 28. Februar 2005), dann wiederum im Jahre 1988 (so im Schreiben an die Beklagte vom 12. März 2008), während er nach anderer Darstellung sie im Jahre 1988 überhaupt erst kennen gelernt haben will (Schreiben vom 16. März 1995 an die Beklagte), mal im Jahre 1995 (so der Schriftsatz vom 24. Februar 2012) mal im Jahre 1996, woraufhin er, nachdem er dies in der Haft erfahren habe, einen Suizidversuch unternommen habe (so im Gespräch gegenüber der Psychologin in der JVA am 17. April 2009 BA Heft 17, Bl. 90); allerdings befand er sich 1996 nicht in Haft. Und soll es nach seiner Darstellung im Schriftsatz vom 16. März 1995 so gewesen sein, dass er als 14-Jähriger ohne Wissen seiner Eltern gleichsam zwangsverheiratet worden sei und seine Frau sich das Leben genommen habe, nachdem er sie nicht habe nach Deutschland holen können, so trägt er nunmehr mit Schriftsatz vom 24. Februar 2012 vor, die Eltern seiner Frau seien mit der Verbindung nicht einverstanden gewesen und sie habe sich aus Furcht vor einer Zwangsverheiratung das Leben genommen.
81Ebenso widersprüchlich ist das Vorbringen hinsichtlich des von dem Kläger angeführten Sohnes: So ist dieser mal ca. 1990 geboren (Schriftsatz vom 16. März 1995), dann ca. im Jahre 1991 (Angaben in der Hauptverhandlung vom 23. März 2000), im Jahre 1989 (Vernehmung am 20. Dezember 2001), 1993 (Angaben in der Hauptverhandlung am 20. Dezember 2007), 1994 (Schreiben vom 12. März 2008) und nunmehr im Jahre 1992 (Schriftsatz vom 24. Februar 2012). Gelebt haben soll er mal in einem Heim, in das er ihn gegeben haben will, um ihn nicht in der Obhut seiner Schwiegereltern lassen zu müssen (Schriftsatz vom 16. März 1995), mal bei eben jenen Schwiegereltern, und zwar in den Niederlanden (Vernehmung am 20. Dezember 2001). Gestorben soll er sein Anfang Oktober 1996 (Angaben in der Vernehmung am 23. Oktober 1996), im August 1996 (Angaben in der Hauptverhandlung am 21. April 1997), im Jahre 2004 (Schreiben vom 28. Februar 2005; vgl. auch Schreiben vom 14. Juli 2004, wonach er zu diesem Zeitpunkt schon verstorben sein soll), im Jahr 2005 (Angaben in der Hauptverhandlung am 20. Dezember 2007), im Juli 2006 (Schreiben vom 12. März 2008) bzw. ohne nähere Festlegung im Jahr 2006 (Schriftsatz vom 24. Februar 2012). Todesursache soll mal eine Hirnblutung (Schreiben vom 12. März 2008 und Schriftsatz vom 24. Februar 2012), mal ein Autounfall (Angaben in der Hauptverhandlung am 20. Dezember 2007) gewesen sein. Die Behauptung des Klägers in der mündlichen Verhandlung des Senats, er sei in allen Fällen falsch verstanden worden, ist fernliegend. Darüber hinaus erklären seine wiederum nur pauschalen Angaben, sein Sohn sei 2005 oder 2006 verstorben, nicht, warum er bereits im Juli 2004 den Tod seines Sohnes als Grund für seine Lebenssituation angeführt hat. Nimmt man ferner hinzu, dass der Kläger trotz der Aufforderung des Senates nicht einmal ansatzweise substantiierte Angaben zu Frau und Sohn gemacht hat die Namensnennung seiner Frau steht zudem im Widerspruch zu früheren Angaben , was angesichts der behaupteten einschneidenden Wirkung auf sein Leben unverständlich ist und obwohl ihm dies unschwer möglich gewesen wäre, da auch in der Türkei Melde-, Geburten- und Sterberegister existieren und er zudem will er seinen Sohn tatsächlich in einem Heim bzw. Internat untergebracht haben über Unterlagen über ihn verfügen muss, so drängt sich der Eindruck auf, dass der Kläger mittels einer erfundenen Geschichte versucht, sich der Verantwortung für seine Drogensucht zu entziehen. Das gesamte Verhalten des Klägers lässt angesichts dessen nicht erkennen, dass er in der Lage sein wird, sich von seiner Betäubungsmittelabhängigkeit zu lösen und in der Folge ein straffreies Leben zu führen.
82Da der Kläger ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzt, darf er nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Diese Ermessensentscheidung der Ausländerbehörde erfordert eine sachgerechte Abwägung der gegenläufigen öffentlichen Interessen an der Ausreise des Ausländers mit dessen privaten Interessen an einem weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet. Dabei darf sich der Beklagte in seiner Abwägung an den in §§ 53 bis 55 AufenthG aufgeführten Wertungen des Gesetzgebers orientieren. Die darin normierten Tatbestände dürfen allerdings nicht im Sinne einer Regelvermutung oder einer sonstigen schematisierenden Entscheidungsdirektive angewendet werden, die auch nur den Anschein eines Automatismus begründet. Vielmehr ist stets auf die Umstände und Besonderheiten des Einzelfalles abzustellen. Zugunsten des Ausländers sind die Gründe für einen besonderen Ausweisungsschutz (§ 56 AufenthG) sowie die Dauer seines rechtmäßigen Aufenthaltes und seine schutzwürdigen persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet zu berücksichtigen. Außerdem sind die Folgen der Ausweisung für die Familienangehörigen des Ausländers, die sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten und mit ihm in familiärer Lebensgemeinschaft leben, in die Abwägung einzustellen (§ 55 Abs. 3 AufenthG). Die von Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 8 EMRK geschützten Belange sind dabei entsprechend ihrem Gewicht und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit in der Gesamtabwägung zu berücksichtigen. Dies gilt insbesondere bei im Bundesgebiet geborenen und aufgewachsenen Ausländern, zumal wenn diese über keine Bindungen an das Land ihrer Staatsangehörigkeit verfügen.
83Vgl. BVerwG, Beschluss vom 25. August 2009 1 C 25.08 , ZAR 2010, 64; OVG NRW, Urteil vom 22. Februar 2011 18 A 1603/10 , juris.
84Auch nach der Rechtsprechung des EGMR gewährt Art. 8 EMRK im Gastland geborenen und aufgewachsenen Ausländern der sog. zweiten Generation kein absolutes Bleiberecht. Ob ein Ausländer der zweiten Generation ausgewiesen werden kann, ist letztlich anhand einer einzelfallbezogenen Würdigung der für die Ausweisung sprechenden öffentlichen Belange und der gegenläufigen Interessen des Ausländers und deren Abwägung gegeneinander zu ermitteln. In die Verhältnismäßigkeitsprüfung sind auch hierbei als Kriterien einzustellen: Die Art und Schwere der von dem Ausländer begangenen Straftaten; die Dauer seines Aufenthalts in dem Land, aus dem er ausgewiesen werden soll; die seit der Tatbegehung verstrichene Zeit und das Verhalten des Ausländers während dieser Zeit; die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat der Ausweisung sowie die familiäre Situation des Ausländers, etwa die Dauer des Fortbestehens seiner Ehe und andere Faktoren, aus denen ein wirksames Beziehungs- bzw. Familienleben hervorgeht und ob die Ehegattin bzw. der Ehegatte im Zeitpunkt des Eingehens der familiären Beziehung von der Begehung der Straftaten wusste.
85Vgl. EGMR, Urteil vom 12. Januar 2010 47486/06 [Abdul Waheed Khan] , InfAuslR 2010, 369.
86Gemessen an diesen Vorgaben ist die Ermessensentscheidung der Beklagten nicht zu beanstanden. Die gesetzlichen Grenzen des Ermessens werden angesichts der vom Kläger ausgehenden Gefahr der Begehung neuer Straftaten sowohl im Bereich der Beschaffungskriminalität als auch im Bereich der Betäubungsmittelkriminalität und der insbesondere den letztgenannten Taten immanenten Schädlichkeit, die sich insbesondere in dem Heroinhandel manifestiert, der darauf ausgelegt ist, die Abhängigkeit der bestehenden Drogenkonsumenten aufrechtzuerhalten und neue hinzuzugewinnen, nicht überschritten. Die Beklagte hat auch rechtsfehlerfrei das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Klägers höher gewichtet als dessen zu berücksichtigende private Interessen. Zwar kommt dem Umstand, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und sich nunmehr seit 37 Jahren hier aufhält, erhebliches Gewicht zu. Einschränkend ist jedoch zu berücksichtigen, dass er weder einen Schulabschluss erzielte, noch eine Berufsausbildung absolviert hat. Einer Berufstätigkeit ist er ausweislich der Aktenlage allenfalls kurzzeitig und bei wechselnden Arbeitgebern nachgegangen. Soweit er geltend macht, selbständig gewesen zu sein, hat er trotz der Aufforderung des Senates keine Nachweise hierüber beigebracht. Die auf den Eintragungen in dem Versicherungsnachweis beruhenden Vermutungen seiner Prozessbevollmächtigten können schon deshalb nicht zutreffen, weil der Kläger im überwiegenden Zeitraum inhaftiert war. Dass der Kläger im Bundesgebiet abgesehen von seiner Mutter und ggf. seinen erwachsenen Geschwistern über feste Bindungen zu hier lebenden Personen verfügt, ist weder vorgetragen worden noch erkennbar. Ausweislich des Inhaltes der vorgelegten Akten befand sich der Kläger, wenn er nicht inhaftiert war, in verschiedenen Einrichtungen oder Wohnheimen und hielt sich zeitweise in der Drogenszene auf. Zuletzt wohnte er nach seinen Angaben gegenüber dem Bewährungshelfer bei einer ebenfalls drogenabhängigen Freundin; zu Art, Dauer und Intensität der Bindung hat der Kläger keine Angaben gemacht. Auch die Beziehung zu seinen Eltern war aufgrund der langjährigen Drogenproblematik belastet. Demgegenüber verfügt der Kläger über türkische Sprachkenntnisse, ist offenbar mit den Gepflogenheiten des Landes seiner Staatsangehörigkeit bzw. seines Kulturkreises vertraut, was sich auch darin zeigt, dass in der Vergangenheit versucht wurde, eine türkischsprachige Therapieeinrichtung zu finden, in der auf seine Suchtproblematik unter Berücksichtigung seiner kulturellen Herkunft eingegangen werden könne. Auch hat er sich zum Zweck seiner Behandlung in der Vergangenheit bereits mehrere Monate in der Türkei aufgehalten. Dass er in der Türkei über keine verwandtschaftlichen Beziehungen mehr verfügt, ist nicht glaubhaft dargelegt. Sollten seine Angaben zu seinen Familienverhältnissen zutreffen, leben in der Türkei zudem weitere ihm bekannte Personen, die ihm jedenfalls in der ersten Zeit der Eingewöhnung zur Seite stehen können. Ihm ist eine Ausreise in die Türkei daher zuzumuten. Der Schutz seines Familienlebens genießt mit Blick darauf, dass alle Familienangehörigen volljährig sind, kein ausschlaggebendes Gewicht. Den Kontakt zu seiner Familie kann er auch von der Türkei aus brieflich oder über Telefon und Internet sowie durch gelegentliche Besuchsaufenthalte aufrechterhalten.
87Vgl. hierzu EGMR, Urteil vom 13. Oktober 2011 41548/06 [Trabelsi] a.a.O.
88Angesichts der Art und der erheblichen Anzahl der bereits begangenen Straftaten, die sich zudem trotz zahlreicher Ermahnungen über einen Zeitraum von über 22 Jahren erstrecken und überwiegend im Erwachsenenalter begangen wurden, sowie angesichts des Umstandes, dass der Kläger ernsthafte Bemühungen, seine Betäubungsmittelabhängigkeit zu überwinden, nicht unternommen hat, sondern vielmehr Ausflüchte sucht, um sich seiner Verantwortung für die Drogensucht nicht stellen zu müssen, ist die Ausweisung vorliegend auch angesichts ihrer unbefristeten Wirkungen verhältnismäßig.
89Ist danach eine Befristung der Wirkungen der Ausweisung für die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung ohne Bedeutung, ergibt sich ein Befristungserfordernis auch nicht aus Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (ABl. L Nr. 348 vom 24. Dezember 2008, S. 98; im folgenden: Rückführungsrichtlinie). Dabei kann offen bleiben, ob Art. 11 der Rückführungsrichtlinie vom deutschen Gesetzgeber mit der Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I, S. 2258) ordnungsgemäß umgesetzt worden ist oder ob mit Blick auf den Umstand, dass Art. 11 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie ein Antragserfordernis jedenfalls nicht erwähnt, sondern seinem Wortlaut nach das Einreiseverbot und die Befristung seiner Wirkung als einheitliche Entscheidung ausgestaltet hat, die Umsetzung insoweit defizitär ist mit der Folge, dass Art. 11 der Rückführungsrichtlinie wegen des Ablaufs der Umsetzungsfrist am 24. Dezember 2010 unmittelbar zur Anwendung gelangt. Denn ungeachtet der Frage, ob eine Ausweisung überhaupt eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie darstellt,
90verneinend: VGH BW, Urteil vom 10. Februar 2012 11 S 1361/11 , juris,
91unterfallen Ausländer, die wie der Kläger infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, nicht dem Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie. Denn die Bundesrepublik Deutschland hat von der ihr gemäß Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, zu beschließen, die Richtlinie nicht auf Drittstaatsangehörige anzuwenden, die nach einzelstaatlichem Recht aufgrund einer strafrechtlichen Sanktion oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind oder gegen die ein Auslieferungsverfahren anhängig ist. Dies folgt zum einen aus dem Wortlaut der Neufassung des § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung aufenthaltsrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union und zur Anpassung nationaler Rechtsvorschriften an den EU-Visakodex vom 22. November 2011 (BGBl. I, S. 2258), soweit es dort heißt, dass die Frist fünf Jahre nur überschreiten darf, wenn der Ausländer auf Grund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder wenn von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht. Während die zweite Alternative sprachlich die Regelung in Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie aufnimmt, knüpft die erste Alternative an die Vorschrift des Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie an. Diese Einschätzung bestätigt im Übrigen die Begründung des Gesetzgebers, der ausdrücklich ausführt, dass die in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG geregelten Ausnahmen von der nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie regelmäßig festzusetzenden Fünfjahresfrist auf den genannten Ausnahmetatbeständen Art. 11 Abs. 2 Satz 2 der Rückführungsrichtlinie einerseits und Art. 2 Abs. 2 lit. b) andererseits beruhen.
92Vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 21.
93Entgegen der Auffassung des OVG Berlin-Brandenburg,
94vgl. Urteil vom 13. Dezember 2011 12 B 19.11 , juris,
95ist die Bezugnahme des Gesetzgebers auf die Ermächtigung in Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie nicht in dem Sinne zu verstehen, dass lediglich punktuell von der nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie grundsätzlich maßgeblichen Obergrenze für die Dauer des Einreiseverbots von fünf Jahren abgewichen werden sollte. Dass der Gesetzgeber in § 11 Abs. 1 Satz 4 AufenthG die Formulierung "überschreiten" gewählt hat, ist erkennbar darauf zurückzuführen, dass die Vorschrift sämtliche Befristungsmodalitäten diejenigen des Art. 11 Abs. 2 Satz 1, des Art. 11 Abs. 2 Satz 2 und, in Anwendung des Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie, die rein nationalen erfassen sollte. Die Formulierung in der Gesetzesbegründung, wonach gegenüber verurteilten Straftätern der Anwendungsbereich der Richtlinie "insoweit" eingeschränkt werde, ist zwar missverständlich, rechtfertigt aber keine abweichende Beurteilung. Die Wendung "insoweit" beruht wenngleich sprachlich missglückt nicht auf der Intention des Gesetzgebers, nur "insoweit" von den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie absehen zu wollen, sondern ist dahin zu verstehen, dass der Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie (auch) hinsichtlich des Regelungsgegenstandes des § 11 AufenthG bei Personen, die aufgrund oder infolge einer strafrechtlichen Sanktion rückkehrpflichtig sind, eingeschränkt ist. Dass der Gesetzgeber in Anwendung des Art. 2 Abs. 2 lit. b) die dort genannte Personengruppe umfassend von dem Geltungsbereich der Rückführungsrichtlinie ausnehmen wollte, verdeutlichen auch die weiteren Ausnahmeregelungen im AufenthG. So ist die Vorschrift des § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG, nach der es in Abweichung von den Vorgaben des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie keiner Festsetzung einer Ausreisefrist bei solchen Ausländern bedarf, die sich auf richterliche Anordnung in Haft oder in sonstigem öffentlichen Gewahrsam befinden, ausdrücklich unter Bezugnahme nicht nur auf die Beschränkungsmöglichkeit des Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie, sondern auch im Hinblick auf die Einschränkung des Anwendungsbereichs der Richtlinie nach deren Art. 2 Abs. 2 lit. b) aufrechterhalten worden.
96Vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 24.
97Hätte der Gesetzgeber auch in diesem Zusammenhang lediglich punktuell von den Vorgaben der Rückführungsrichtlinie abweichen wollen, hätte es des Hinweises auf Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie nicht bedurft, da die von § 59 Abs. 5 Satz 1 AufenthG in Bezug genommenen Fälle der Ingewahrsamnahme bereits von Art. 7 Abs. 4 der Rückführungsrichtlinie erfasst werden. Schließlich belegt auch der Umstand, dass der Gesetzgeber mit der Regelung des § 77 Abs. 3 Satz 4 AufenthG in einem weiteren Fall von der Einschränkungsmöglichkeit des Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie Gebrauch gemacht und den von ihr erfassten Personenkreis von den Verfahrensgarantien der Rückführungsrichtlinie soweit sie nicht bereits kraft nationalen Rechts zur Anwendung gelangen ausgenommen hat, dass er den Anwendungsbereich der Rückführungsrichtlinie umfassend und nicht lediglich punktuell einschränken wollte. Dass der Gesetzgeber lediglich in den vorgenannten Fällen entweder im Gesetzestext selbst oder in der Begründung Bezug auf die ihm durch Art. 2 Abs. 2 lit. b) der Rückführungsrichtlinie eingeräumte Möglichkeit der Einschränkung ihres Anwendungsbereichs genommen hat, nicht aber gleichsam vor die Klammer gezogen in einer gesonderten Vorschrift den betroffenen Personenkreis von den Regelungen der Rückführungsrichtlinie ausgenommen hat, ist somit ersichtlich allein darauf zurückzuführen, dass er zur Erfüllung seiner Pflicht zur Umsetzung der Richtlinie die Systematik des Aufenthaltsgesetzes beibehalten und lediglich in den Bereichen Anpassungen vornehmen wollte, hinsichtlich derer aufgrund der Richtlinie Regelungsbedarf bestand.
98Vgl. BT-Drs. 17/5470, S. 17.
99Soweit einzelne Vorschriften des nationalen Aufenthaltsrechts denen der Richtlinie auch für die von Art. 2 Abs. 2 lit. b) erfasste Personengruppe entsprechen, weil der Gesetzgeber im Zuge der Umsetzung der Richtlinie diesen Personenkreis von der jeweiligen nationalen Vorschrift nicht ausgenommen hat so etwa im Fall der Bestimmung der Ausreisefrist nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG n.F. , ist dies nicht Folge der gebotenen Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben, sondern beruht auf der autonomen Rechtsetzungsbefugnis des Gesetzgebers, der zugunsten einer einheitlichen Regelung auf eine weitergehende Differenzierung im nationalen Recht verzichtet hat.
100Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kann der Kläger selbst in dem Fall, dass die Rückführungsrichtlinie auf die Ausweisungsverfügung Anwendung finden sollte, aus der bislang unterbliebenen Befristung des nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG eintretenden Einreiseverbots einen darauf gerichteten Antrag hat der Kläger nach seinen Angaben nicht ausdrücklich gestellt und ein Befristungsbegehren auch in sonstiger Weise bislang nicht zu erkennen gegeben nichts zu seinen Gunsten herleiten. Zwar spricht mit Blick auf die fortdauernde Wirkung des Einreiseverbots vieles dafür, dass jedenfalls die materiellen Vorgaben der Rückführungsrichtlinie auch auf den Fall des Klägers anzuwenden sind, obwohl die Ausweisungsverfügung bereits unter dem 16. September 2008 und damit noch vor Erlass der Rückführungsrichtlinie am 16. Dezember 2008 ergangen ist. Dieses Verständnis dürfte dem sowohl in Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Rückführungsrichtlinie als auch in deren 14. Erwägungsgrund zum Ausdruck kommenden Zweck entsprechen, das gemeinschaftsrechtlich einheitlich geltende Einreiseverbot (auch) zum Schutz der betroffenen Drittstaatsangehörigen auf eine Dauer von grundsätzlich nicht mehr als fünf Jahren zu erstrecken.
101Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 18. April 2011 18 E 1238/10 , AuAS 2011, 173; vgl. entsprechend zu Art. 15 der Rückführungsrichtlinie EuGH, Urteil vom 30. November 2009 C-357/09 PPU [Kadzoev] , http://curia.europa.eu.
102Dies hat gleichwohl nicht zur Folge, dass sich die Ausweisungsverfügung als rechtswidrig erweist. Der Umstand, dass nach der Konzeption der Rückführungsrichtlinie das Einreiseverbot und die Befristung seiner Wirkung als einheitliche Entscheidung ausgestaltet sind, mag dazu führen, dass eine ggf. richtlinienwidrig unterbliebene Befristung die Rechtswidrigkeit des Einreiseverbots begründet. Eine wie auch immer geartete Verbindung zwischen dem Einreiseverbot und der Rückkehrentscheidung falls die Ausweisung eine solche sein sollte , die allein rechtfertigen könnte, dass eine Fehlerhaftigkeit des Einreiseverbots wegen fehlender Befristung auf die Rechtmäßigkeit der Rückkehrentscheidung durchschlägt, ist der Rückführungsrichtlinie jedoch nicht zu entnehmen. Im Gegenteil wird der fehlende Rechtmäßigkeits-Zusammenhang vielmehr nachdrücklich dadurch bestätigt, dass die Rückkehrentscheidung auch nach Maßgabe der Rückführungsrichtlinie von der Entscheidung über ein (befristetes) Einreiseverbot getrennt ergehen kann (vgl. Art. 6 Abs. 6 der Rückführungsrichtlinie).
103Vgl. auch Saarl.OVG, Beschluss vom 18. Oktober 2011 2 A 352/11 , juris.
104Davon abgesehen führt jedenfalls unter den Besonderheiten des vorliegenden Falls der Umstand, dass eine Befristungsentscheidung nicht zeitgleich mit der Ausweisung ergangen ist, nicht zu deren Rechtswidrigkeit. Ergeht wie hier die Ausweisung zu einem Zeitpunkt noch vor Erlass der Rückführungsrichtlinie und erst Recht vor dem Ablauf der Frist zu ihrer Umsetzung, kann die Behörde selbst für den Fall, dass sich aus der Rückführungsrichtlinie ein Erfordernis der Verbindung beider Entscheidungen ergeben sollte, eine solche Vorgabe nicht beachten. Dies dürfte zwar nicht dazu führen, dass der Kläger insoweit schutzlos gestellt wäre. Vielmehr dürfte die Beklagte die gebotene Befristung wobei hier offen bleiben kann, ob diese auf Antrag oder von Amts wegen zu erfolgen hat spätestens zum Zeitpunkt der Aufenthaltsbeendigung des Klägers vorzunehmen haben. Fehlt es damit vorliegend aber an einer Vorgabe, die Befristung zwingend mit der Ausweisung zu verbinden, kann sich abgesehen von dem hier nicht gegebenen Fall, dass eine unbefristete Ausweisung unverhältnismäßig ist die bislang fehlende Befristung auf die Rechtmäßigkeit der Ausweisung nicht auswirken. Sollte die Beklage eine Befristung gar nicht vornehmen oder eine Befristung auf einen Zeitpunkt verfügen, den der Kläger für rechtswidrig hält, so ist er darauf zu verweisen, einen entsprechenden Anspruch im Wege der Verpflichtungsklage zu verfolgen.
105Lässt sich schon aus den vorgenannten Gründen aus der Rückführungsrichtlinie das Erfordernis einer Befristung der Wirkungen der Ausweisung nicht ableiten, so kommt es nicht mehr entscheidungserheblich auf die Frage an, ob das von der Richtlinie für die Notwendigkeit einer Befristung vorausgesetzte Einreiseverbot gegeben ist. Diese Frage könnte sich stellen, weil Art. 11 Abs. 1 bis 3 der Rückführungsrichtlinie jedenfalls idealtypisch die Konstellation eines im Einzelfall konstitutiv zu verhängenden Einreiseverbots zu Grunde liegen dürfte, während das nationale Recht von einem kraft Gesetzes bestehenden Einreiseverbot ausgeht.
106Die Rechtmäßigkeit der mit der Ausweisung verbundenen Abschiebungsandrohung folgt aus § 59 AufenthG. Die Bestimmung einer Ausreisfrist für den derzeit wieder gegebenen Fall, dass sich der Kläger in Strafhaft befindet, war gemäß den §§ 59 Abs. 5, 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG entbehrlich. Soweit ihm für den Fall der Haftentlassung eine Frist von einem Monat ab Bestandskraft der Ordnungsverfügung eingeräumt wurde, ist diese Frist nicht zu beanstanden.
107Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
108Die Revision wird zugelassen, weil die Frage der Anwendung der Richtlinie 2008/115/EG grundsätzliche Bedeutung hat (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO).