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Liegen die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwVfG NRW vor, räumt die Vorschrift der Behörde die Befugnis ein, nach Ermessen über einen Verzicht auf die Anhörung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung bedarf einer Begründung, die erkennen lassen muss, auf welchen Erwägungen die Entscheidung, von der Anhörung abzusehen, beruht.
Bei der Auslegung einer Meinungsäußerung sind die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen. Hierzu gehört auch, wenn sich der Äußernde mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert oder seine Äußerungen sonst damit in Zusammenhang stehen. Im Sinne der menschenrechts- und völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts ist zu berücksichtigen, dass die Bundesrepublik das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung ratifiziert (ICRED – BGBl II 1969, 962 ff.) und sich in dessen Art. 4 verpflichtet hat, jede Form von rassistischer Propaganda und Rassendiskriminierung zu bekämpfen.
Ein Angriff auf die Menschenwürde zur Begründung eines volksverhetzenden Gehalts einer Wahlwerbung kann im Einzelfall unter Rückgriff auf das Parteiprogramm der werbenden Partei bzw. ihre innere Haltung abgeleitet werden, wenn jedenfalls dieser dauerhafte Kern des Parteiprogramms dem Wahlbürger als Adressaten so präsent ist, dass er die Aussage auch unter Berücksichtigung dieses Wissens auslegen und verstehen muss.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 29. April 2020 wird zurückgewiesen.
Die Kosten des Berufungsverfahrens trägt der Kläger.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
2Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit einer Beseitigungsverfügung, mit der die Beklagte dem Kläger aufgegeben hatte, Wahlplakate zur Europawahl 2019 zu entfernen oder unkenntlich zu machen.
3Auf Antrag des Klägers erteilte die Beklagte diesem am 24. April 2019 die Erlaubnis zur Sondernutzung des öffentlichen Straßenraums zum Zweck des Aufhängens von 250 Wahlplakaten anlässlich der anstehenden Wahl zum Europäischen Parlament am 19. Mai 2019. Die Erlaubnis war befristet bis zum 26. Mai 2019.
4In der Folge wurden im Stadtgebiet an zahlreichen Stellen Wahlplakate der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands, deren Kreisverband der Kläger ist, angebracht. Das von dem Kläger genutzte Wahlplakat war im Querformat gehalten und zeigte in seinem rechten Drittel das Emblem der Partei in weißer und roter Farbe sowie darunter den in Weiß gedruckten Schriftzug „Widerstand – jetzt –“. Die linken Zweidrittel des Plakats wiesen einen schwarz-grauen Hintergrund auf, auf dem in Hellgrau die Ortsnamen verschiedener deutscher Städte und Gemeinde lesbar waren, die jeweils durch ein christliches Kreuz voneinander getrennt waren. Im Vordergrund befand sich unter der in Rot gedruckten Überschrift „Stoppt die Invasion:“ der in Weiß gehaltene und durch seine Größe deutlich hervortretende Slogan „Migration tötet!“
5Am 15. Mai 2019 stellte das Ordnungsamt der Beklagten fest, dass ein solches Wahlplakat an einer Straßenlaterne vor dem Haus S. Straße 279 in N. angebracht worden war.
6Unter dem Datum des 16. Mai 2019 erließ die Beklagte eine Ordnungsverfügung gegen den Kläger. Darin forderte sie diesen auf, alle Wahlwerbeplakate der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD) mit dem Wahlwerbeslogan „Stoppt die Invasion: Migration tötet!“ in N. bis zum 17. Mai 2019, 12:00 Uhr, zu entfernen oder unkenntlich zu machen. Für den Fall, dass der Kläger dem nicht Folge leisten würde, drohte die Beklagte die Durchführung dieser Anordnung im Wege der Ersatzvornahme an. Zugleich ordnete sie gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Ordnungsverfügung an. Zur Begründung führte die Beklagte aus, das Wahlwerbeplakat verstoße gegen die öffentliche Sicherheit gemäß § 14 Abs. 1 OBG NRW. Mit der Angabe, eine Invasion stoppen zu wollen, setze die NPD die Migrationsbewegung, allem aber die verstärkte Migration des Jahres 2015, mit einer Invasion, also einem feindlichen Einrücken militärischer Kräfte in ein fremdes Territorium, gleich. In der Wahrnehmung der Bevölkerung würden damit existenzbedrohende, mitunter lebensbedrohliche Umstände suggeriert, die geeignet seien, das allgemeine Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu untergraben. Dem zweiten Bestandteil „Migration tötet!“ sei im Wege der objektiven Auslegung die eindeutige Aussage zu entnehmen, dass Migranten sämtlich Straftäter seien, die eine akute Bedrohung für Leib und Leben der deutschen Bevölkerung darstellten. Hierbei komme auch eine anderweitige Auslegung, nämlich dergestalt, dass Migration die Migrierenden selber töte, nicht in Betracht. Durch den Kontext mit dem Begriff Invasion werde zweifelsfrei suggeriert, dass hier eine Vernichtung des deutschen Volkes zu befürchten sei. Diese Verunglimpfung erfülle den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Volksverhetzung) und stelle damit einen Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit dar. Gemäß § 18 OBG NRW sei die Maßnahme gegen den Eigentümer zu richten, wenn von einer Sache oder einem Tier eine Gefahr ausgehe. Anknüpfungspunkt sei insoweit nicht menschliches Verhalten, sondern die tatsächliche oder rechtliche Sachherrschaft. Derjenige, der die Möglichkeit zur Nutzung einer Sache habe, solle auch die damit verbundenen Verpflichtungen tragen. In Anbetracht der Gefahr für die öffentliche Sicherheit falle die anzustellende Ermessensentscheidung unter Einbeziehung des Interesses an der Werbung im Rahmen des Europawahlkampfes zulasten des Klägers aus. Die angeordnete Entfernung oder Unkenntlichmachung der Plakate sei das einzig geeignete Mittel, um die bestehende Gefahr zu beseitigen. Hinsichtlich der Anordnung der sofortigen Vollziehung führte die Beklagte aus, dass es im Hinblick auf einen Verstoß gegen das Strafgesetzbuch nicht hingenommen werden könne, dass die Wahlwerbeplakate im Stadtgebiet bis zu einer unanfechtbaren Entscheidung öffentlich angebracht blieben. Von einer Anhörung sei gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW abgesehen worden.
7Die Ordnungsverfügung wurde dem damaligen Vorsitzenden des Klägers am 16. Mai 2019 um 18:35 Uhr durch einen Behördenbediensteten gegen Zustellungsurkunde übergeben.
8Am 17. Mai 2019 hat der Kläger Anfechtungsklage gegen die Ordnungsverfügung erhoben und zugleich beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen bzw. anzuordnen. Durch rechtskräftigen Beschluss vom 21. Mai 2019 (Az. 20 L1449/19) hat das erstinstanzliche Gericht den Eilantrag abgelehnt.
9Mit Schreiben vom 19. Mai 2019 teilte der damalige Vorsitzende des Klägers dem Ordnungsamt der Beklagten mit, man habe das Wahlplakat mit dem betreffenden Slogan auf der S. Straße und an anderen ihm bekannten Stellen entfernt. Da die Plakate von unterschiedlichen Gruppen angebracht worden seien, könne er nicht für die vollständige Räumung garantieren. Soweit sich die Beklagte auf § 18 OBG NRW beziehe, in dessen Abs. 1 Maßnahmen gegen den Eigentümer der Sache ermöglicht würden, sei jedoch die Bundespartei und nicht der Kreisverband Eigentümerin der Wahlplakate. Insoweit sehe er die Ordnungsverfügung als gegenstandslos an.
10Nach Durchführung der Wahlen zum Europäischen Parlament hat der Kläger seine zunächst erhobene Anfechtungsklage als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführt. Zur Begründung hat er im Wesentlichen geltend gemacht: Das Fortsetzungsfeststellungsinteresse folge daraus, dass er auch bei zukünftigen Wahlkämpfen mit dem in Rede stehenden Motiv für sich werben wolle. Es bestehe zudem ein Rehabilitationsinteresse, da über die Entfernung der Plakate in den Medien umfangreich berichtet worden und der Vorwurf der Volksverhetzung ehrenrührig sei. Zudem liege ein besonders schwerwiegender Eingriff in die Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 1 GG vor. Die Ordnungsverfügung erweise sich als formell rechtswidrig, weil die Beklagte von der vorgeschriebenen Anhörung abgesehen habe. Da ihm eine mehrtägige Frist für die Beseitigung der Plakate gesetzt worden sei, habe ausreichend Zeit für eine zumindest kurz bemessene Anhörungsfrist bestanden. Da festzustellen gewesen sei, ob es sich bei dem Wahlplakat um Volksverhetzung handele, sei die Beklagte verpflichtet gewesen, ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, was er mit der streitgegenständlichen Äußerung überhaupt habe aussagen wollen. Die Ordnungsverfügung erweise sich auch als materiell rechtswidrig, weil das verwendete Wahlplakat nicht den Straftatbestand der Volksverhetzung erfülle. Dieses beziehe sich nicht auf alle Migranten und auch nicht auf alle seit Herbst 2015 in das Bundesgebiet eingereisten Personen, sondern ausschließlich auf kriminelle Migranten. Mit dem plakativen Slogan "Migration tötet!“ weise er auf die objektive Problemlage hin, dass die gegenwärtige Migrationspolitik der Bundesregierung fortlaufend zur Verletzung oder gar Tötung von Menschen durch Messerangriffe und ähnliche Straftaten führe. Zur Verdeutlichung dieser Aussage seien im Hintergrund des Plakats zahlreiche, durch Kreuze getrennte Tatorte aufgeführt, an denen Menschen seit September 2015 von kriminellen Migranten ermordet worden seien. Einem durchschnittlichen und besonnenen Beobachter mache dies deutlich, dass sich der Slogan nicht auf alle, sondern ausschließlich auf kriminelle Migranten beziehe. Im Übrigen handele es sich bei den im Herbst 2015 in das Bundesgebiet eingereisten Migranten nicht um eine abgegrenzte Bevölkerungsgruppe im Sinne von § 130 Abs. 1 StGB. Auch sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde nicht erkennbar, sondern allenfalls ein Angriff auf die persönliche Ehre der Genannten. Dies erfülle den Straftatbestand der Volksverhetzung jedoch nicht. Im Weiteren fehle es ebenso an einem böswilligen Verächtlichmachen im Sinne der Vorschrift. Der Kläger handele nicht aus verwerflichen Beweggründen, sondern sei erkennbar von der Motivation geleitet, die deutsche Bevölkerung vor Straftaten durch kriminelle Migranten zu schützen.
11Der Kläger hat beantragt,
12festzustellen, dass die Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 rechtswidrig war.
13Die Beklagte hat beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie hat die angefochtene Ordnungsverfügung verteidigt und hierzu vorgetragen: Diese habe ausnahmsweise ohne die vorgeschriebene Anhörung ergehen dürfen, weil Gefahr im Verzug bestanden habe. Es sei mitnichten so gewesen, dass die Plakate über längere Zeit unbeanstandet geblieben seien; ein schnelles behördliches Handeln sei unabdingbar gewesen. Aus diesem Grund habe man auch keine mehrtägige Frist für die Befolgung der Ordnungsverfügung bestimmt, sondern die kürzestmögliche, noch angemessene Frist. Ein möglicher Anhörungsfehler sei jedenfalls durch den Vortrag des Klägers im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes geheilt worden. Dabei haben diese es allerdings versäumt, eine mögliche Auslegung der Aussagen des Wahlplakats in der nun von ihm dargestellten Art und Weise darzulegen. In der Sache könne sich der Kläger zwar auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen, was auch Äußerungen in überspitzter und polemischer Form rechtfertige. Das verfahrensgegenständliche Wahlplakat überschreite indes die Grenze zu einer strafbaren Volksverhetzung. Ihm sei die eindeutige Aussage zu entnehmen, dass sämtliche Migranten gefährliche Straftäter seien und eine akute Bedrohung für Leib und Leben der deutschen Bevölkerung darstellten. Die Äußerung „Migration tötet“ stelle eine böswillige Verächtlichmachung der in Deutschland lebenden Migranten dar, was einen Angriff auf die Menschenwürde dieser Bevölkerungsgruppe bedeute. Dieser würden pauschal sozial unerträgliche Verhaltensweisen und Eigenschaften zugeschrieben. Migranten werde ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeiten abgesprochen. Eine latent vorhandene Gewaltbereitschaft gegenüber Teilen der Bevölkerung werde so vertieft, was den öffentlichen Frieden störe.
16Mit Urteil vom 29. April 2020 hat das Verwaltungsgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Klage sei zulässig. Dem Kläger komme das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse zu. Nach seinem Vorbringen beabsichtige er, das verfahrensgegenständliche Wahlplakat mit derselben Gestaltung zukünftig erneut zu verwenden. Insoweit bestehe eine hinreichend konkrete Gefahr, dass die Beklagte erneut die Entfernung oder Unkenntlichmachung der Wahlplakate verfügen werde. Der angefochtene Verwaltungsakt sei im Augenblick seiner Erledigung jedoch rechtmäßig gewesen. Von einer Anhörung des Klägers habe ausnahmsweise nach § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW abgesehen werden dürfen. Die von dem Kläger aufgehängten Wahlplakate hätten fortlaufend den Straftatbestand der Volksverhetzung verwirklicht. Um die Begehung dieser sich ständig wiederholenden Straftaten zügig zu unterbinden, habe von der vorhergehenden Anhörung abgesehen werden dürfen, da der damit verbundene Zeitverlust nicht hinnehmbar gewesen sei. So habe die Beklagte nach Feststellung des gesetzwidrigen Zustandes auch keine unnötige Zeit verloren, gegen den Kläger vorzugehen. Anders als von dem Kläger angeführt, habe es eine mehrtägige Frist zur Beseitigung der Wahlplakate nicht gegeben. Die Entscheidung der Beklagten, von der Anhörung abzusehen, erweise sich auch als ermessensgerecht, weil nicht erkennbar sei, welche für die Entscheidung erheblichen Tatsachen der Kläger hätte vorbringen wollen. Der Kläger bringe auch im laufenden Verfahren Rechtsansichten, aber keine abweichenden Tatsachen vor. Die Ordnungsverfügung erweise sich auch als materiell rechtmäßig. Die nach § 14 Abs. 1 OBG NRW notwendige Gefahr für die öffentliche Sicherheit habe bestanden, da das Aufhängen des fraglichen Wahlplakates den Straftatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB verwirklicht habe. Bei der Auslegung des § 130 StGB sei die Reichweite und Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG zu berücksichtigen. Vom Schutzbereich erfasst seien Meinungen unabhängig von ihrer Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit. Maßgeblich sei es, zunächst den Sinn der Meinungsäußerung zutreffend zu erfassen, wobei der Sinn nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv zu ermitteln sei. Dabei seien bei mehrdeutigen Aussagen zu Gunsten des die Meinung Äußernden auch nicht völlig fernliegende Auslegungsvarianten zu berücksichtigen. Von der hier maßgeblichen Aussage seien die in Deutschland lebenden Migranten, von denen die „Migration“ ausgehe, als abgrenzbarer Teil der Bevölkerung betroffen. Eine Beschränkung auf seit September 2015 eingereiste oder auf kriminelle Migranten sei nicht zu erkennen. Das Wahlplakat mache diese Gruppe auch in böswilliger Art und Weise verächtlich und bringe mit dem Begriff „Invasion“ zum Ausdruck, dass dieser gewaltsam begegnet werden dürfe. Dabei sei auch der Aufruf zum Widerstand in der rechten Hälfte des Plakats zu berücksichtigen, sodass das Plakat als Aufruf an die deutsche Bevölkerung zu verstehen sei, der Zuwanderung mit geeigneten (gewaltsamen) Maßnahmen entgegenzutreten. Verstärkt werde dies durch die in großen Lettern hervorgehobene Aussage „Migration tötet!“, mit der pauschal eine Gefahr von Tötungsdelikten verknüpft sei. Dabei bestehe kein wesentlicher Unterschied zu der Formulierung „Migranten töten“. Eine bloße Kritik an der Einwanderungspolitik lasse sich dem Plakat nicht entnehmen. Schließlich erwecke die Aufzählung von Städtenamen den Eindruck, dass Migranten für eine unüberschaubare Zahl von Todesfällen verantwortlich seien. Im Ergebnis gehe es dem Kläger ausschließlich darum, die in Deutschland lebenden Ausländer zu diffamieren. Dies sei zentraler Bestandteil der politischen Agenda der NPD. Die Gruppe der Migranten werde durch das Wahlplakat auch in ihrer Menschenwürde angegriffen. In der Folge sei das Wahlplakat auch geeignet, den öffentlichen Frieden zu gefährden, da suggeriert werde, dass der Staat nicht willens oder in der Lage sei, Deutsche vor solchen Angriffen zu schützen. Dies erschüttere das Vertrauen in die Rechtssicherheit und verstärke eine latent vorhandene Gewaltbereitschaft bestimmter Personenkreise. Die von der Beklagten getroffene Störerauswahl sei nicht zu beanstanden. Selbst wenn die Wahlplakate nicht im Eigentum des Klägers gestanden haben sollten, sei der Kläger zumindest Inhaber der tatsächlichen Gewalt im Sinne von § 18 Abs. 2 Satz 1 OBG NRW gewesen.
17Der Kläger hat gegen das Urteil am 30. April 2020 die vom Senat zugelassene Berufung eingelegt. Zur Begründung hat er vorgetragen: Die Anhörung sei vorliegend nicht wegen Gefahr im Verzug entbehrlich gewesen. Angesichts der Bedeutung des Anhörungsrechts sei insoweit ein strenger Maßstab anzulegen. Es müsse auch eine mündliche, eventuell telefonische Anhörung in Betracht gezogen werden. Da die Beklagte keinen Sofortvollzug durchgeführt, sondern dem Kläger eine eintägige Frist gesetzt habe, sei innerhalb dieser Frist eine Anhörung, wenn auch nach Stunden bemessen, möglich gewesen. Der Verweis des erstinstanzlichen Gerichts auf das Fehlen von dem Oberbürgermeister der Beklagten nicht bekannten Tatsachen gehe fehl, da in der Anhörung auch Rechtsansichten hätten geäußert werden können, die zu einem Absehen von der Maßnahme hätten führen können. Der Anhörungsmangel sei auch weder geheilt worden noch erweise sich die fehlende Anhörung als unbeachtlich. Der Bescheid sei darüber hinaus auch materiell rechtswidrig; insbesondere könne die Maßnahme nicht auf § 14 Abs. 1 OBG NRW gestützt werden. Unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Maßstäbe sei § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht verwirklicht. Das Plakat erweise sich als objektiv mehrdeutig und lasse eine Interpretation zu, die keinen Straftatbestand verwirkliche, wie sich auch aus zahlreichen anderweitigen Entscheidungen einschließlich solchen des Bundesverfassungsgerichts ergebe. Im Übrigen sei die von dem Verwaltungsgericht vertretene Lesart unzutreffend. Eine Interpretation dahingehend, dass alle Migranten kollektiv und pauschal als Kriminelle dargestellt würden, finde im Wortlaut keine Stütze; das Plakat verknüpfe den Vorgang der Migration mit den von kriminellen Migranten verübten Straftaten. Migration als solche sei aber kein taugliches Schutzobjekt des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB; an ihr seien verschiedenste Akteure beteiligt. Der Begriff der Migration deute vielmehr darauf hin, dass die Migrationspolitik und die damit verbundenen Konsequenzen angesprochen werden sollten. Durch die Nennung von Tatorten werde eine Verbindung zwischen der Migration und tatsächlich verübten Straftaten hergestellt, was eine kritische Auseinandersetzung mit einer Thematik von überragender öffentlicher Bedeutung darstelle. Der Zusatz „Stoppt die Invasion“ führe zu keinem anderen Ergebnis, da der Begriff „Invasion“ vor dem Hintergrund der abgebildeten Tatorte zu lesen und auszulegen sei. Hinsichtlich krimineller Migranten erweise sich die Wertung als „Invasion“ nicht als fernliegend. Die Begriffe „stoppen“ und „Widerstand leisten“ seien im Kontext eines laufenden Wahlkampfes zu sehen und daher als Aufforderung zur Leistung von „Widerstand an der Wahlurne“ zu interpretieren. Schließlich werde durch die Bezugnahme auf Tatorte von Tötungsdelikten nach dem Herbst 2015 für den verständigen Betrachter deutlich, dass auf die aktuelle Migrationspolitik Bezug genommen werde, nicht aber alle Migranten diffamiert würden. Auch eine (unterstellte) Bezugnahme auf alle seit Herbst 2015 eingereisten Migranten führe jedenfalls nicht zur Annahme einer Strafbarkeit wegen Volksverhetzung. Insoweit erweise sich diese Gruppe als nicht hinreichend abgrenzbar. Im Weiteren fehle es an einem Angriff auf die Menschenwürde. Selbst wenn man dem Plakat die Aussage entnehmen könnte, alle Migranten seien kriminell, sei darin allenfalls ein Angriff auf deren persönliche Ehre, nicht aber auf die Menschenwürde zu sehen.
18Der Kläger beantragt sinngemäß,
19unter Abänderung des Urteils des Verwaltungsgerichts Düsseldorf vom 29. April 2020 festzustellen, dass die Beseitigungsverfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019 rechtswidrig gewesen ist.
20Die Beklagte beantragt,
21die Berufung zurückzuweisen.
22Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
23Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten ergänzend Bezug genommen.
24Die Beteiligten haben schriftlich ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
25Entscheidungsgründe:
26Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten hiermit ihr Einverständnis erklärt haben, § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
27Die Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
28Die Klage ist als Fortsetzungsfeststellungsklage zulässig. Der Kläger hat zunächst mit Schriftsatz vom 17. Mai 2019 die Aufhebung der Ordnungsverfügung begehrt und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Schriftsatz vom 3. Juli 2019 hat er seinen Klageantrag sodann auf ein Fortsetzungsfeststellungsbegehren umgestellt. Diese Klageänderung ist gemäß § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Nach dieser Vorschrift spricht das Gericht auf Antrag durch Urteil aus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig gewesen ist, wenn sich der Verwaltungsakt vorher durch Zurücknahme oder anders erledigt hat. Auf die weiteren Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Klageänderung nach § 91 VwGO kommt es dabei nicht an, weil hierdurch lediglich das bisherige Klagebegehren – die Aufhebung des Verwaltungsakts – eingeschränkt und nicht durch ein anderes ersetzt wird.
29Vgl. Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 113 Rn. 88; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 241.
30Die verfahrensgegenständliche Ordnungsverfügung vom 16. Mai 2019 hat sich nach Klageerhebung erledigt. Ob der Wegfall einer rechtlichen Wirkung bereits, wie das Verwaltungsgericht annimmt, mit dem Abschluss der Europawahl eingetreten ist, bedarf dabei keiner weiteren Erörterung. Dem könnte entgegenstehen, dass die straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis bis zum 26. Mai 2019 und nicht lediglich bis zum Ablauf des Wahltages oder sogar bis zur Schließung der Wahllokale befristet war. Dabei ist zu bedenken, dass die über den Wahltag hinaus gewährte Sondernutzung letztlich allein der Notwendigkeit geschuldet ist, die Plakate in den Tagen nach der Wahl wieder entfernen zu müssen. Jedenfalls mit Entfernen der Wahlplakate durch den Kläger und Ablauf der Sondernutzungserlaubnis am 26. Mai 2019 sind aber von der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung keine rechtserheblichen Wirkungen mehr ausgegangen.
31Das notwendige Fortsetzungsfeststellungsinteresse in Form einer hinreichenden Wiederholungsgefahr liegt vor. Eine solche ist anzunehmen, wenn in absehbarer Zeit bei im Wesentlichen gleichen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnissen mit dem Erlass eines gleichartigen Verwaltungsaktes zu rechnen ist. Die gerichtliche Entscheidung muss insoweit für die künftige behördliche Entscheidung von „richtungsweisender“ Bedeutung sein können. Um dies annehmen zu können, müssen konkrete Anhaltspunkte für den Eintritt einer vergleichbaren Belastung bei einem vergleichbaren und abzusehenden Sachverhalt gegeben sein. Ist dagegen – gleichsam im Umkehrschluss – ungewiss, ob in Zukunft noch einmal die gleichen tatsächlichen Verhältnisse eintreten wie im Zeitpunkt des Erlasses des erledigten Verwaltungsaktes, kann das Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht aus einer Wiederholungsgefahr hergeleitet werden.
32Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 29. April 2008 – 1 WB 11.07 –, juris, Rn. 21, vom Urteil vom12. Oktober 2006 – 4 C 12.04 –, juris, Rn. 8, vom 21. Oktober 1999 – 1 B 37.99 –, juris, Rn. 5, und vom 16. Oktober 1989 – 7 B 108/89 –, juris, Rn. 5; OVG NRW, Beschluss vom 24. Oktober 2019 – 5 A 2719/17 –, juris, Rn. 11; Urteil vom 4. November 2016 – 15 A 2293/15 –, juris, Rn. 42; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 271.
33Der Kläger hat geltend gemacht, Wahlplakate der Art, wie sie durch die Beklagte beanstandet worden sind, in Zukunft erneut verwenden zu wollen. Für diesen Fall besteht die hinreichend konkrete Gefahr, dass die Beklagte gegenüber dem Kläger erneut die Entfernung der Wahlplakate wegen eines Verstoßes gegen § 130 StGB verlangen wird.
34Der Kläger ist im Verwaltungsrechtsstreit gemäß § 61 beteiligtenfähig. Nach § 61 Nr. 2 VwGO sind Vereinigungen fähig am Verfahren beteiligt zu sein, soweit ihnen ein Recht zustehen kann. Die Vorschrift ermöglicht auch nicht rechtsfähigen Personenvereinigungen, öffentlich-rechtliche Ansprüche eigenständig gerichtlich durchzusetzen, die ihnen als Personenmehrheit zuerkannt sind. Daher sind diese Vereinigungen beteiligtenfähig, wenn sie geltend machen können, Zuordnungssubjekt einer materiellen Rechtsposition zu sein, die einen Bezug zum Streitgegenstand des konkreten Rechtsstreits aufweist.
35Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 2018– 6 C 2/17 –, juris, Rn. 13; Bier/Steinbeiß-Winkelmann, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Bd. I, Stand: Juli 2020, § 61 Rn. 6, m.w.N; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 9. Juli 1992 – 7 C 32.91 –, juris, Rn. 7.
36Politische Parteien und ihre Gebietsverbände, deren Gründungs- und Betätigungsfreiheit Art. 21 Abs. 1 GG sichert, sind Vereinigungen im gesellschaftlichen Bereich, die sich der Rechtsformen des Privatrechts bedienen. In der Folge sind Gebietsgliederungen politischer Parteien in der Rechtsform des nichtrechtsfähigen Vereins beteiligtenfähig, wenn sie wirksam gegründet sind und ihnen in Bezug auf den Gegenstand des konkreten Rechtsstreits eine materiell-rechtliche Position zukommen kann. Dabei findet eine weitergehende Prüfung einer wirksamen Gründung grundsätzlich nicht statt.
37Vgl. BVerwG, Urteil vom 28. November 2018– 6 C 2/17 –, juris, Rn. 15 ff. und 27.
38Der Kläger ist ein Kreisverband der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD). Er kann sich mithin auf Rechte aus Art. 21 Abs. 1 GG berufen. Zudem war der Kläger Adressat der am 24. April 2019 von dem Oberbürgermeister der Beklagten erteilten straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis zum Aufhängen der Wahlplakate. In der Folge kann er auch geltend machen, durch die angefochtene Ordnungsverfügung in der Ausnutzung der Sondernutzungserlaubnis sowie in seinem Recht aus Art. 21 Abs. 1 GG in rechtswidriger Weise betroffen gewesen zu sein.
39Die Klage ist nicht begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Feststellung, dass die ordnungsbehördliche Verfügung der Beklagten vom 16. Mai 2019, mit der diese dem Kläger aufgegeben hat, die streitgegenständlichen Wahlplakate zu entfernen oder unkenntlich zu machen, rechtswidrig gewesen ist.
40Die Ordnungsverfügung der Beklagten war im Ergebnis nicht aufgrund eines formellen Fehlers aufzuheben. Sie litt zwar an einem Anhörungsmangel, der sich auch nicht gemäß § 45 VwVfG NRW als unbeachtlich erwiesen hat. Dieser führte wegen § 46 VwVfG NRW allerdings nicht zu einem Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts und in der Folge in der vorliegenden Fortsetzungsfeststellungskonstellation auch nicht zu einem Anspruch auf Feststellung der Rechtswidrigkeit des mittlerweile erledigten Verwaltungsakts.
41Vgl. zur Fehlerfolge des § 46 VwVfG: BVerwG, Urteil vom 24. Juni 2010 – 3 C 14/09 –, juris, Rn. 9; Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/ Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 46 Rn. 60, 98; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 113 Rn. 50.
42Einem Fortsetzungsfeststellungsbegehren darf aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen § 113 Abs. 1 Satz 1 und Satz 4 nur entsprochen werden, soweit der Antragsteller durch den rechtswidrigen Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt worden ist und der betreffende Verwaltungsakt deshalb hätte aufgehoben werden müssen, wenn er sich nicht erledigt hätte.
43Vgl. Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 46 Rn. 60.
44Nach § 28 Abs. 1 VwVfG NRW ist einem Beteiligten vor Erlass eines Verwaltungsaktes, der in dessen Rechte eingreift, Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Dies war hier der Fall. Die Ordnungsverfügung griff jedenfalls in das durch die straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis gewährte Recht des Klägers zur Anbringung von Plakaten zu Wahlkampfzwecken ein.
45Die Beklagte hat in rechtwidriger Weise von einer Anhörung gemäß § 28 Abs. 2 VwVfG NRW abgesehen. Hiernach ist eine Anhörung nicht erforderlich, wenn sie nach den Umständen des Einzelfalles nicht geboten ist. Die in den Nummern 1 bis 5 aufgeführten Fälle, in denen insbesondere von einer Anhörung abgesehen werden kann, sind dabei nicht abschließend, sondern als Regelbeispiele zu verstehen.
46Vgl. Hess. VGH, Urteil vom 27. Februar 2013– 6 C 824/11.T –, juris, Rn. 50; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 28 Rn. 47.
47Hier lag dem Grunde nach ein Fall des § 28 Abs. 2 Nr. 1 VwVfG NRW vor. Nach dieser Vorschrift kann von einer Anhörung abgesehen werden, wenn eine sofortige Entscheidung wegen Gefahr im Verzug oder im öffentlichen Interesse notwendig erscheint. Eine solche Gefahr im Verzug ist hier anzunehmen gewesen. Sie besteht, wenn durch die vorherige Anhörung auch bei Gewährung kürzester Anhörungsfristen ein Zeitverlust einträte, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Folge hätte, dass die behördliche Maßnahme zu spät käme, um ihren Zweck noch zu erreichen. Ob eine sofortige Entscheidung objektiv notwendig war oder die Behörde eine sofortige Entscheidung zumindest für notwendig halten durfte, ist von dem Gericht aus der ex-ante-Sicht der entscheidenden Behörde zu beurteilen. Mithin ist die objektive Notwendigkeit zu einer sofortigen Entscheidung auch in dem Fall anzunehmen, in dem die Behörde aufgrund der ihr bekannt gewordenen konkreten Tatsachen eine sofortige Entscheidung für notwendig halten durfte. Der unbestimmte Rechtsbegriff "Gefahr im Verzug" unterliegt dabei in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung. Hierbei ist wegen der Bedeutung des Anhörungsrechts als tragendem Prinzip des rechtsstaatlichen Verfahrens ein strenger, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter Maßstab anzulegen.
48Vgl. BVerwG, Urteile vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 14, vom 18. Oktober 1988– 1 A 89.83 –, juris, Rn. 28, und vom 15. Dezember 1983 – 3 C 27.82 –, juris, Rn. 55 f.; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 28 Rn. 51.
49Gefahr im Verzug in diesem Sinne ist etwa bei Gefahren für wichtige Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit und Ordnung (etwa im Straßenverkehrs- oder Baubereich zum Schutz von Leib und Leben für einzelne Personen oder eine unbestimmte Anzahl von Menschen) anzunehmen.
50Vgl. Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl. 2018, § 28 Rn. 52.
51Auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO befreit als solche die Behörde nicht von der Verpflichtung zur Anhörung vor Erlass des belastenden Verwaltungsakts.
52Vgl. VG Neustadt/Weinstraße, Beschluss vom 29. September 2008 – 4 L 1083/08 –, juris, Rn. 6; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 28 Rn. 51.
53Dabei kann die Durchführung einer Anhörung auch formlos (etwa telefonisch, per Fax oder per E-Mail) erfolgen. Dies gilt selbst dann, wenn der beabsichtigte Verwaltungsakt der Schriftform bedarf. Dies ist bei der Beurteilung der Notwendigkeit eines Absehens von der Anhörung zu berücksichtigen.
54Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 15; OVG Lüneburg, Beschluss vom 31. März 2010 – 4 LC 281/08 –, juris, Rn. 28, m.w.N. (zu § 24 Abs. 1 SGB X).
55Auf der Grundlage des Vorgesagten konnte die Beklagte grundsätzlich von einer Anhörung des Klägers absehen. Eine Gefahr im Verzug lag vor, weil eine bereits begonnene, fortlaufende Verletzung des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit angenommen werden konnte. Nach der durch die Beklagte erfolgten Prüfung konnte dort unter Zugrundelegung des vorgenannten ex-ante-Maßstabs davon ausgegangen werden, dass die Gestaltung der verfahrensgegenständlichen Wahlplakate des Klägers den Straftatbestand der Volksverhetzung nach § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllte. Angesichts der Tatsache, dass die Wahlplakate bereits im Straßenraum auf dem Gebiet der Beklagten aufgehängt waren und daher – unter Zugrundelegung der Einschätzung der Beklagten – fortlaufend eine Verwirklichung eines Straftatbestandes vorgelegen hat, der mit einer erheblichen Strafandrohung versehen war, war eine weitere Verzögerung des Verwaltungsverfahrens durch eine Anhörung des Klägers nicht hinnehmbar. Hiergegen kann nicht angeführt werden, dass die Plakate bereits aufgehängt worden waren und die Rechtsgutsverletzung bereits begonnen hatte.
56Dem steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte dem Kläger in der streitgegenständlichen Ordnungsverfügung eine Frist bis zum 17. Mai 2019, 12.00 Uhr gesetzt hatte. Zwar kann das Setzen einer großzügig bemessenen Frist zur Beseitigung des beanstandeten (rechtswidrigen) Zustands dafür sprechen, dass auch durch eine Anhörung kein relevanter Zeitverlust eingetreten wäre und daher auch so die Ziele der Ordnungsverfügung hätten erreicht werden können. Dies war aber vorliegend – entgegen der erstinstanzlichen Auffassung des Klägers – nicht der Fall. Die Beklagte hat die Ordnungsverfügung unter dem Datum des 16. Mai 2019 und damit nur einen Tag nach erstmaliger Befassung erlassen. Die Ordnungsverfügung ist noch am gleichen Abend um 18.35 Uhr dem damaligen Vorsitzenden des Kreisverbandes persönlich zugestellt worden. Die gesetzte Frist zum Abhängen der beanstandeten Wahlplakate betrug damit weniger als 18 Stunden, wovon die Nachtstunden noch in Abzug zu bringen sind. Angesichts der dem Kläger erteilten straßenrechtlichen Sondernutzungsgenehmigung zum Anbringen von 250 Wahlplakaten im gesamten Stadtgebiet war diese Frist bereits äußerst knapp bemessen. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das Anbringen (und Entfernen) der Wahlplakate meist durch Parteimitglieder erfolgt, die ehrenamtlich tätig sind und somit zunächst aktiviert werden müssen.
57Auch steht der Annahme von Gefahr im Verzug nicht entgegen, dass die Beklagte die Plakate nicht im Sofortvollzug mittels Ersatzvornahme durch eigene Kräfte oder eine beauftragte Drittfirma abgehängt hat. Nach § 55 Abs. 2 VwVG NRW kann eine Behörde auch ohne vorausgehenden Verwaltungsakt Verwaltungszwang anwenden, wenn das zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr notwendig ist und die Vollzugsbehörde innerhalb ihrer Befugnisse handelt. Ob eine Behörde im Sofortvollzug vorgeht oder das gestreckte Verfahren wählt, liegt in ihrem Ermessen.
58Schon aufgrund der Tatsache, dass die straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis die Örtlichkeiten zum Anbringen der Wahlplakate nicht näher bestimmte und somit das gesamte Stadtgebiet der Beklagte zu kontrollieren gewesen wäre, lag es auch unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten äußerst nahe, das Abhängen zunächst dem Kläger aufzuerlegen und nicht selbst durchzuführen bzw. einen Dritten zu beauftragen. Mithin können hieraus keine Rückschlüsse auf die Hinnehmbarkeit der durch eine Anhörung entstehenden zeitlichen Verzögerung gezogen werden.
59Der Verzicht der Beklagten auf die Anhörung erweist sich aber als ermessensfehlerhaft. Liegen die Voraussetzungen des § 28 Abs. 2 VwVfG NRW vor, räumt die Vorschrift der Behörde die Befugnis ein, nach Ermessen über einen Verzicht auf die Anhörung zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung bedarf einer Begründung, die nicht gesondert erfolgen muss, sondern auch in der abschließenden Sachentscheidung erfolgen kann. Sie muss dabei erkennen lassen, auf welchen Erwägungen die Entscheidung, von der Anhörung abzusehen, beruht.
60Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. September 1999 – 18 B 2727/97 –, juris, Rn. 6; Hess. VGH, Urteil vom 27. Februar 2013 – 6 C 824/11.T –,juris, Rn. 50; Beschluss vom 23. September 2011 – 6 B 1701/11 –, juris, Rn. 23; Kallerhoff/Mayen, in: Stelkens/Bonk/ Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 28 Rn. 49; Schwarz, in: Fehling/Kastner/Störmer, VwR, 5. Auflage 2021, § 28 Rn. 40.; Schneider, in: Schoch/Schneider, VwVfG, Stand: Juli 2020, § 28 Rn. 54.
61Die verfahrensgegenständliche Ordnungsverfügung der Beklagten wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Diese hat insoweit auf Seite 3 der Ordnungsverfügung lediglich ausgeführt, von einer Anhörung werde gemäß § 28 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG NRW abgesehen. Diese Vorschrift erlaubt das Absehen von einer Anhörung in Fällen der Verwaltungsvorstreckung, was hier erkennbar nicht der Fall war. Die Beklagte ging insoweit von unzutreffenden Erwägungen aus. Weitergehende ermessensbezogene Erwägungen fehlten vollständig. Das Vorliegen eines Ausnahmetatbestandes nach § 28 Abs. 2 VwVfG NRW ist dabei aber lediglich Voraussetzung für die Ausübung des der Behörde zukommenden Ermessens; es suspendiert nicht die in der Folge notwendige Ausübung desselben.
62Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 14. September 1999 – 18 B 2727/97 –, juris, Rn. 6; Hess. VGH, Urteil vom 27. Februar 2013 – 6 C 824/11.T –, juris, Rn. 50.
63Hier lag insofern auch keine Ermessensreduzierung auf Null vor, da es durchaus denkbar war, statt gänzlich auf eine Anhörung zu verzichten, eine Frist zur Stellungnahme bis zum nächsten Morgen zu setzen und sodann unmittelbar die streitgegenständliche Ordnungsverfügung mit einer dann noch kürzeren Frist zu setzen.
64Dass die Anhörung aus den – zwingenden – Gründen des § 28 Abs. 3 VwVfG zu unterbleiben hatte, lässt sich weder dem Verwaltungsvorgang noch dem Vorbringen der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren entnehmen.
65Die festgestellte Verletzung der Anhörungspflicht ist auch nicht im Zeitpunkt der Erledigung gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW unbeachtlich gewesen. Nach dieser Vorschrift ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 44 nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Gemäß § 45 Abs. 2 VwVfG NRW kann die Nachholung der Anhörung nur bis zum Abschluss der ersten Instanz eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens erfolgen.
66Eine Heilung nach dieser Vorschrift setzt voraus, dass die Anhörung ordnungsgemäß durchgeführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Funktion besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Dementsprechend reichen Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren als solche zur Heilung einer unterbliebenen Anhörung nicht aus.
67Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. August 2017– 9 VR 2.17 –, juris, Rn. 10, sowie Urteile vom 17. Dezember 2015 – 7 C 5.14 –, juris, Rn. 17, vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 18, und vom 24. Juni 2010 – 3 C 14.09 –, juris, Rn. 37; OVG NRW, Urteil vom 6. November 2018 – 5 A 470/17 –.
68Dies zugrunde gelegt hat die Beklagte die Anhörung des Klägers nicht wirksam nachgeholt. Außergerichtlich hat sie den Kläger nicht nachträglich angehört. Auch unter Berücksichtigung des bei der Beklagten am 20. Mai 2019 eingegangenen Schreibens des Klägers fehlt es insoweit jedenfalls an einem außergerichtlichen Erwägen des Vorbringens.
69Unabhängig davon, inwieweit durch innerprozessuales Verhalten nach den genannten Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts überhaupt noch eine Heilung möglich ist,
70vgl. zu einer Heilung in der mündlichen Verhandlung BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2015– 7 C 5.14 –, juris, Rn. 18,
71konnte eine Heilung durch den Schriftsatz der Beklagten im gerichtlichen Eilverfahren 20 L 1449/19 vom 20. Mai 2019 nicht mehr erfolgen.
72Der Zweck der Anhörung, auf die Entscheidungsfindung der Behörde Einfluss zu nehmen, kann zum einen nicht mehr erreicht werden, wenn von dem Verwaltungsakt selbst gar keine Wirkungen mehr ausgehen, eine Änderung der Maßnahme aufgrund der nachgeholten Anhörung für den Betroffenen also gar keine Wirkung mehr gehabt hätte.
73Vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 – 3 C 16.11 –, juris, Rn. 18; Bay. VGH, Urteil vom 1. Juni 2017 – 20 B 16.2241 –, juris, Rn. 31.
74Angesicht der Tatsache, dass die straßenrechtliche Sondernutzungserlaubnis über den Wahltag hinaus noch bis zum 26. Mai 2019 Geltung hatte, war insoweit zwar (wohl) noch keine Erledigung eingetreten. Die nach dem Vorstehenden notwendige uneingeschränkte Funktionsäquivalenz für den Entscheidungsprozess der Behörde setzt zum anderen aber auch voraus, dass die mit dem Anhörungsfehler verbundenen Nachteile vollständig beseitigt werden (können). Soweit normative Vorschriften Verfahrensfehler für unbeachtlich oder heilbar erklären, ist das nur hinnehmbar, wenn der Einzelne durch die nachgeholte Verfahrenshandlung so gestellt wird, wie er gestanden hätte, wenn der Fehler nicht geschehen wäre.
75Vgl. Schwarz, in: Fehling/Kastner/Störmer, 5. Auflage 2021, Hk-VerwR, § 45 VwVfG Rn. 16; Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 45 Rn. 73.
76Dies ist im vorliegenden Fall nicht anzunehmen. Mit Ablauf des Wahltages konnten selbst durch eine (unterstellte) Nachholung der durchzuführenden Anhörung die Verfahrensrechte des Klägers nicht in gleicher Art und Weise Berücksichtigung finden. Der nach dem Wahltag noch verbleibende Zeitraum für die Nutzung des Straßenraums zur Wahlwerbung diente erkennbar nur dem Zweck, die bis zum Ende des Wahlzeitraums aufgestellten Plakate entfernen zu können. Wäre der Zeitraum der straßenrechtlichen Sondernutzungserlaubnis mit dem Wahltag ausgelaufen, verblieben den Parteien bzw. Wahlbewerbern nur wenige Stunden nach Schließung der Wahllokale. Ein eigenständiger Zweck zur Ermöglichung von Wahlwerbung kommt diesem überschießenden Genehmigungszeitraum aber nicht zu. Mithin war das Eingehen auf die Argumente des Klägers in dem Schriftsatz der Beklagten im Verfahren 20 L 1449/19 am 20. Mai 2019 ungeeignet, die Anhörung nachzuholen.
77Der festgestellte Verfahrensmangel wirkt sich aber nach § 46 VwVfG NRW nicht aus. Nach dieser Vorschrift kann die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, der nicht nach § 44 VwVfG NRW nichtig ist, nicht allein deshalb beansprucht werden, weil er unter Verletzung von Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit zustande gekommen ist, wenn offensichtlich ist, dass die Verletzung die Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.
78Bei nicht strikt auf Grund rechtlicher Alternativlosigkeit gebundenen Entscheidungen,
79vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 6. November 2018 – 5 A 470/17 –; Beschluss vom 2. Februar 2016 – 16 B 1267/15 –, juris, Rn. 7,
80ist im Einzelfall zu prüfen, ob die konkrete Möglichkeit besteht, dass ohne den Verfahrensfehler die Entscheidung anders ausgefallen wäre; eine nur abstrakte Möglichkeit einer anderen Entscheidung genügt nicht.
81Vgl. BVerwG, Urteil vom 31. Juli 2012 – 4 A 7001.11 u. a. –, juris, Rn. 34, und Beschluss vom 6. Mai 2008 – 9 B 64.07 –, juris, Rn. 10, jeweils m. w. N.
82In dem Fall, dass die maßgeblichen Vorschriften der Behörde Ermessen zuerkennen, also die Entscheidung bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen nicht per se determiniert ist, setzt eine offensichtlich fehlende Beeinflussung der Sachentscheidung bei einer ex ante-Betrachtung eine Reduktion des Ermessens auf Null voraus.
83Vgl. BVerwG, Urteil vom 26. März 1981 – 5 C 28.80 –, juris, Rn. 29; Schneider, in: Schoch/Schneider, VwVfG, Stand: Juli 2020, § 46 Rn. 49; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Auflage 2018, § 46 Rn. 61; Emmenegger, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, VwVfG, 2. Auflage 2019, § 46 Rn. 79.
84An die Annahme einer Ermessensreduzierung auf Null sind regelmäßig strenge Maßstäbe anzulegen; ein anderes Verständnis stünde nicht im Einklang mit dem durch den Gesetzgeber vorgegebenen Handlungsspielraum der Verwaltung. Eine Reduzierung des Ermessens auf Null setzt deshalb außergewöhnliche Umstände, die Gefährdung eines hohen Rechtsguts oder eine besondere Intensität der Störung voraus. Insbesondere die Grundrechte und die in ihnen verkörperteWerteordnung sind zu berücksichtigen.
85Vgl. OVG NRW, Urteil vom 26. Januar 1982– 4 A 2586/80 –, NVwZ 1983, 101, 102; Aschke, in: BeckOK VwVfG, 51. Edition, Stand: 1. April 2021, § 40 Rn. 73; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 22. Oktober 2009 – 1 C 26.08 –, juris, Rn. 20.
86Dabei kommt der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert eine überragende Bedeutung zu. Art. 1 Abs. 1 GG verpflichtet die staatliche Gewalt, alle Menschen gegen Angriffe auf die Menschenwürde zu schützen. Solche Angriffe können in Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung und anderen Verhaltensweisen bestehen, die dem Betroffenen seinen Achtungsanspruch als Mensch absprechen. Die Menschenwürde als Fundament aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.
87Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 11. März 2003 – 1 BvR 426/02 –, juris, Rn. 26.
88Dies zugrunde gelegt ergab sich für die Beklagte von ihrem ex-ante-Blickwinkel aus eine Ermessensreduzierung auf Null. Sie hat – ungeachtet der abschließenden rechtlichen Beurteilung durch das Gericht – den Sachverhalt intensiv geprüft und ist zu der Überzeugung gelangt, dass das verfahrensgegenständliche Wahlwerbeplakat den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllt und die Menschenwürde der betroffenen Personengruppe angreift. In diesem Fall ist eine Ordnungsbehörde gehalten, die notwendigen ordnungsrechtlichen Maßnahmen zu ergreifen, um diese Rechtsgutverletzung – auch unter Berücksichtigung der möglicherweise konkurrierenden Meinungsfreiheit – wirksam zu beenden.
89Dem steht auch nicht entgegen, dass in dem maßgeblichen Zeitpunkt die Frage der Verwirklichung des Straftatbestandes der Volksverhetzung noch nicht höchstrichterlich geklärt gewesen ist. Die fehlende (höchst-)gerichtliche Klärung der Auslegung einer Rechtsvorschrift hat von Rechts wegen keine Auswirkung auf die Anwendung dieser Vorschrift durch die hierzu berufende Ordnungsbehörde. Diese ist vielmehr gehalten, anhand der anerkannten Auslegungsmethoden den Inhalt der Vorschrift selbst zu ermitteln und auf dieser Basis tätig zu werden. Aus eben diesem Grund ist – wie vorstehend ausgeführt – auch im Rahmen des § 46 VwVfG NRW auf eine ex-ante-Betrachtung abzustellen. Ein anderes Verständnis wäre geeignet, den Schutz der Rechte Dritter insbesondere bei neu aufgetretenen Rechtsfragen einzuschränken.
90Anders VG Gießen, Urteil vom 9. August 2019 – 4 K 2279/19.GI –, juris, Rn. 20.
91Die Ordnungsverfügung der Beklagten ist materiell rechtmäßig gewesen, § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO.
92Die Voraussetzungen zum Einschreiten der Ordnungsbehörde nach § 14 Abs. 1 OBG NRW waren erfüllt. Nach dieser Vorschrift können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Falle bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Eine solche (konkrete) Gefahr liegt vor, wenn bei ungehindertem Geschehensablauf in überschaubarer Zukunft mit einem Schaden für die Schutzgüter der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung hinreichend wahrscheinlich gerechnet werden kann. In tatsächlicher Hinsicht bedarf es in Abgrenzung zu einem bloßen Gefahrenverdacht einer genügend abgesicherten Prognose auf den drohenden Eintritt von Schäden.
93Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 28. Juni 2004 – 6 C 21.03 –, juris, Rn. 25; OVG NRW, Beschluss vom 6. August 2015 – 5 B 908/15 –, juris, Rn. 5, und Urteil vom 9. Februar 2012 – 5 A 2375/10 –, juris, Rn. 31.
94Das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit umfasst dabei jedenfalls die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, die subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie die Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates. Je gewichtiger das bedrohte Schutzgut und je größer das Ausmaß des möglichen Schadens ist, umso geringere Anforderungen werden an die Schadensnähe gestellt.
95Vgl. OVG NRW, Beschlüsse vom 6. August 2015 – 5 B 908/15 –, juris, Rn. 7, und vom 30. Januar 2009 – 5 A 2239/08 –, juris, Rn. 19, sowie Urteil vom 3. Juni 1997 – 5 A 4/96 –, juris, Rn. 3.
96Vorliegend ist das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit durch die Anbringung der Wahlwerbeplakate im öffentlichen Straßenraum durch den Kläger verletzt worden, weil Gestaltung und Inhalt des Wahlplakats den Straftatbestand der Volksverhetzung gemäß § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt haben.
97Nach dieser Vorschrift wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren bestraft, wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zur einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet.
98Bei der Anwendung dieser Strafvorschrift haben die Ordnungsbehörden ebenso wie die Gerichte zu gegenwärtigen, dass sich eine Partei bei politischen Äußerungen im Wahlkampf auf die Meinungsäußerungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG (in Verbindung mit Art. 21 GG),
99vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. Mai 2019– 1 BvQ 45/19 –, juris, Rn. 18, und vom 24. September 2009 – 2 BvR 2179/09 –, juris, Rn. 2,
100berufen kann. Das Grundrecht gibt jedem das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten. Dies umfasst auch – insbesondere in der öffentlichen Auseinandersetzung, zumal im politischen Meinungskampf – in überspitzter und polemischer Form zum Ausdruck gebrachte Kritik. Vom Schutzbereich erfasst werden Meinungen unabhängig von deren Begründetheit, Werthaltigkeit oder Richtigkeit. Sie verlieren diesen Schutz auch dann nicht, wenn sie scharf und übersteigert formuliert geäußert werden. Weiterhin ist es zulässig, für die Meinungskundgabe diejenigen Umstände zu wählen, von denen man sich die größte Verbreitung oder die stärkste Wirkung seiner Meinungskundgabe verspricht.
101Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. September 2009 – 2 BvR 2179/09 –, juris, Rn. 3, vom 10. Juli 1992 – 2 BvR 1802/91 –, juris, Rn. 61, vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476/91 –, juris, Rn. 108, und vom 22. Juni 1982 – 1 BvR1376/79 –, juris, Rn. 13.
102Eine inhaltliche Begrenzung von Meinungsäußerungen kommt unter anderem im Rahmen der allgemeinen Gesetze im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG in Betracht. Bei der Strafvorschrift des § 130 Abs. 1 StGB handelt es sich um ein solches allgemeines Gesetz im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG, das dem Schutz der Menschenwürde dient und seinen verfassungsrechtlichen Rückhalt damit letztlich in Art. 1 Abs. 1 GG findet.
103Die Ordnungsbehörden haben ebenso wie die Gerichte bei der Auslegung und Anwendung von § 130 StGB aber insbesondere die aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG abzuleitenden verfassungsrechtlichen Anforderungen zu beachten, damit die wertsetzende Bedeutung dieses Grundrechts auf der Normanwendungsebene zur Geltung kommt.
104Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 24. September 2009 – 2 BvR 2179/09 –, juris, Rn. 6, Beschluss vom 6. September 2000 – 1 BvR 1056/95 –, juris, Rn. 34, und vom 10. Oktober 1995 – 1 BvR 1476/91 u.a. –, juris, Rn. 118 ff.
105Verletzt eine Äußerung die in Art 1 Abs. 1 GG als unantastbar geschützte Menschenwürde, so muss insoweit die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, da die Menschenwürde mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist. Auch das bedarf allerdings vor dem Hintergrund der vorgenannten Ableitung letztlich aller Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 GG einer sorgfältigen Begründung. Die Menschenwürde gewährleistet den sozialen Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt. Damit geht einher, dass allein die Verletzung der Ehre einer Person nicht als ein "Angriff auf die Menschenwürde" einzuordnen ist. Erforderlich ist vielmehr, dass der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen und sie als minderwertiges Wesen behandelt wird. Eine Menschenwürdeverletzung kommt nur in Betracht, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.
106Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 2. November 2020 – 1 BvR 2727/19 –, juris, Rn. 15; vom 19. Mai 2020 – 1 BvR 2397/19 –, juris, Rn. 22, vom 11. März 2003 – 1 BvR 426/02 –, juris, Rn. 26, und vom 6. September 2000 – 1 BvR 1056/95 –, juris, Rn. 40.
107Ist wie hier hinsichtlich der Frage der Verwirklichung des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB unter eine strafrechtliche Norm zu subsumieren, ist vor jeder rechtlichen Wertung zunächst der Sinn der Meinungsäußerung zutreffend zu erfassen. Maßgeblich hierfür ist weder die subjektive Absicht des Äußernden noch das subjektive Verständnis der von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums objektiv hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Der objektive Sinn wird vielmehr auch vom Kontext und den Begleitumständen der Äußerung bestimmt, soweit diese für den Rezipienten erkennbar sind. Die Notwendigkeit der Berücksichtigung begleitender Umstände ergibt sich in besonderer Weise dann, wenn die betreffende Formulierung ersichtlich ein Anliegen nur in schlagwortartiger Form zusammenfasst. Ist eine Äußerung mehrdeutig, so hat die Ordnungsbehörde ebenso wie das erkennende Gericht, wollen sie die zur Anwendung sanktionierender Normen führende Deutung ihrer rechtlichen Würdigung zu Grunde legen, andere Auslegungsvarianten mit nachvollziehbaren und tragfähigen Gründen auszuschließen. So kann genügen, dass sich eine mit der jeweiligen Äußerung verbundene (verdeckte) Aussage dem angesprochenen Publikum als unabweisbare Schlussfolgerung aufdrängt. Frühere eigene Kundgebungen sind bei der Wertung zu berücksichtigen, wenn zu ihnen ein eindeutiger Bezug hergestellt wird.
108Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 4. Februar 2010– 1 BvR 369/04 –, juris, Rn. 28, vom 24. September 2009 – 2 BvR 2179/09 –, juris, Rn. 7 f., vom 1. Dezember 2007 – 1 BvR 3041/07 –, juris, Rn. 15, vom 13. Februar 1996 – 1 BvR 262/91 –, juris, Rn. 30 f., und vom 10. Oktober 1995– 1 BvR 1476/91 –, juris, Rn. 124.
109Welche Umstände den Inhalt der im Streit stehenden Aussage noch prägen, weil sich ein Inhalt dem Rezipienten ausdrängt, ist nicht abstrakt festzulegen. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Hierzu gehört insbesondere, wenn sich der Äußernde mit der nationalsozialistischen Rassenideologie identifiziert oder seine Äußerungen sonst damit in Zusammenhang stehen. Diese Umstände können Hinweise darauf geben, wie der durchschnittliche Zuhörer die Äußerungen auffassen wird.
110Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Juli 2020– 1 BvR 479/20 –, juris, Rn. 15, und vom 6. September 2000 – 1 BvR 1056/95 –, juris, Rn. 43 f.; BGH, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 4 StR 283/05 –, juris, Rn. 12.
111Dabei ist durch den Rechtsanwender entsprechend den allgemeinen Grundsätze zur menschenrechts- und völkerrechtsfreundlichen Auslegung des deutschen Rechts,
112Vgl. nur BVerfG, Beschluss vom 14. Oktober 2004 – 2 BvR 1481/04 –, juris, Rn. 33,
113zu berücksichtigen, dass die Bundesrepublik das Internationale Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung ratifiziert (ICRED – BGBl II 1969, 962 ff.) und sich in dessen Art. 4 verpflichtet hat, jede Form von rassistischer Propaganda und Rassendiskriminierung zu bekämpfen. Gerade im Kontext bewusst mehrdeutiger, für den unbefangenen Beobachter jedoch gleichwohl eindeutig rassistischer Äußerungen ist diese internationale Verpflichtung bei der Auslegung des § 130 StGB, der die aus Art. 4 Buchstabe a ICRED folgende Verpflichtung zur Strafbarmachung solcher Äußerungen umsetzt, in den Blick zu nehmen.
114Vgl. hierzu ausführlich: Schmahl, Der Umgang mit rassistischen Wahlkampfplakaten vor dem Hintergrund des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2016.
115Dies entspricht auch der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, nach welcher es von größter Bedeutung sei, gegen Rassendiskriminierung in all ihren Formen und Äußerungen anzugehen.
116Vgl. EGMR (V. Sektion), Entscheidung vom 20. April 2010 – 18788/09 (LePen/Frankreich) –, NJW-RR 2011, 984.
117Dies vorausgeschickt gilt auf der Grundlage der dargestellten Maßstäbe hier folgendes: Zutreffend ist das Verwaltungsgericht davon ausgegangen, dass das Wahlplakat (nur) einer Auslegung zugänglich ist, die den Straftatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt, weil hiermit die in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Migranten in böswilliger Weise verächtlich gemacht werden.
118Betroffen von der Äußerung ist zunächst ein hinreichend abgrenzbarer Teil der Bevölkerung. Hierunter ist eine sich aufgrund bestimmter objektiver und subjektiver Merkmale von der übrigen Bevölkerung unterscheidende Personenmehrheit zu verstehen, die zahlenmäßig von einiger Erheblichkeit, d.h. individuell nicht mehr überschaubar ist.
119Vgl. Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage 2018, § 130 Rn. 2; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 130 Rn. 3.
120Ein solcher abgrenzbarer Teil der Bevölkerung ist in der Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten, also der aus dem Ausland nach Deutschland eingereisten und sich niederlassenden Menschen, zu erblicken.
121Vgl. (in Bezug auf alle Ausländer in der Bundesrepublik Deutschland): BGH, Urteil vom 20. September 2011 – 4 StR 129/11 –, juris, Rn. 18.
122Anders als von dem Kläger angeführt ist dem Wahlplakat keine Begrenzung auf die Gruppe der seit Herbst 2015 eingereisten oder der "kriminellen" Migranten zu entnehmen. Der Begriff der Migration lässt eine solche Einschränkung nicht erkennen, sondern stellt auf den Vorgang in seiner Gesamtheit ab. Mithin unterscheidet das Wahlplakat auch nicht zwischen verschiedenen Gruppen von Migranten. Eine solche Unterscheidung erfolgt auch nicht durch das Aufführen bestimmter Tatorte. Der sich durch seine Gestaltung in den Vordergrund drängende Slogan „Migration tötet“ lässt keine Einschränkung durch dieses Gestaltungsmittel erkennen, sondern dient ausschließlich der Verdeutlichung der Gefahr, die von dem Kläger gesehen wird.
123Auch ein böswilliges Verächtlichmachen liegt vor. Dies ist der Fall, wenn das Lebensrecht der Betroffenen in der Gemeinschaft aus verwerflichen Beweggründen durch Äußerungen bestritten oder sie als unterwertig behandelt werden sollen.
124Vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 4 StR 283/05 –, juris, Rn. 18; Kühl, in: Lackner/Kühl, StGB, 29. Auflage 2018, § 130 Rn. 3; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 130 Rn. 3.
125Dies war hier der Fall. Das Verwaltungsgericht weist zu Recht darauf hin, dass der Begriff der Invasion einen feindlichen Einfall in ein fremdes Hoheitsgebiet beschreibt. Dies wird noch verstärkt durch die Verknüpfung mit dem Begriff der Migration, welchem zudem (unmittelbar und nicht nur aufgrund weiterer Zwischenschritte) tödliche Wirkung zugeschrieben wird. Zur Illustration werden dabei Orte aufgezählt, an denen in das Gebiet der Bundesrepublik eingereisten Ausländern Straftaten gegen das Leben zum Nachteil deutscher Staatsbürger vorgeworfen werden. Eine Einschränkung auf einen bestimmten Teil dieser Personengruppe erfolgt diesbezüglich nicht. Vielmehr drängt sich angesichts der dargestellten Bedeutung des Begriffs der Invasion als Äußerungsinhalt die Aussage auf, dass allgemein Ausländer die Tötung Deutscher beabsichtigten und mit der zahlenmäßigen Zunahme der Migranten auch die Gefahr für Deutsche, Opfer eines solchen Delikts zu werden, ansteige. Aus dem teilweisen Anschneiden der Städtenamen lässt sich dabei die naheliegende Deutung ziehen, die Aufzählung lasse sich (unendlich) fortsetzen; der Kreis der Taten sei als jedenfalls größer als dargestellt.
126Das hier streitgegenständliche Wahlplakat ist auch keiner nicht fernliegenden Auslegung zugänglich, die strafrechtlich irrelevant wäre. Zwar stellt der zentrale Slogan der Wahlwerbung „Migration tötet“ zunächst auf den Vorgang der Migration als solchen und nicht auf Personen ab. Nicht einmal der Kläger trägt jedoch vor, dass er davon ausgehe, dass unbefangene Betrachter dem Plakat die Aussage entnehmen könnten, der Migrationsvorgang als solcher sei gefährlich. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Begriff mit einer Aufzählung von Orten hinterlegt ist, an denen in den letzten Jahren Personen mit Migrationshintergrund Tötungsdelikte zum Nachteil deutscher Staatsbürger begangen haben.
127Zwar ist die hohe Zahl der in das Bundesgebiet einreisenden Ausländer insbesondere im Jahr 2015 Gegenstand einer gesellschaftlichen und politischen Diskussion gewesen. Zudem ist es Gegenstand eines öffentlichen Diskurses einschließlich intensiver medialer Berichterstattung gewesen, dass jedenfalls ein Teil der beschriebenen Tötungsdelikte von Personen begangen worden sind, die in dem vorgenannten Zeitraum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind und sich hier im Asylverfahren befunden haben. Das streitgegenständliche Wahlplakat kann aber nicht mehr als (überspitzter und polemischer) Beitrag zu dieser Debatte im Sinne einer Kritik an der Migrationspolitik verstanden werden, sondern generalisiert – wie bereits ausgeführt – die geschehenen Taten erkennbar in Bezug auf die Gruppe der gesamten Migranten. Damit scheidet eine strafrechtlich irrelevante Deutung des Aussagegehalts als fernliegend im Sinne des oben genannten Maßstabs aus. Das Zusammenspiel des Wortlauts des Plakats „Migration tötet“ und Invasion stoppen“ lässt nur eine Auslegung zu, die eine bestimmte Bevölkerungsgruppe als Teil einer Invasion, die tötet, brandmarkt und erfüllt den Tatbestand des § 130 Abs. 1 StGB.
128Über die vorgenannten, selbstständig tragenden Erwägungen hinaus ist in dem hier vorliegenden Einzelfall nach Überzeugung des Senats auch das Parteiprogramm der NPD in ihrem Kern zu berücksichtigen. Dies führt erst recht zu der Annahme, dass jede nicht strafrechtlich relevante Deutung des Wahlplakats als fernliegend ausscheiden musste.
129Regelmäßig wird eine unabweisbare Schlussfolgerung in dem vorgenannten Sinne aus dem Parteiprogramm einer politischen Partei nicht anzunehmen sein, wenn hierzu vertiefte Kenntnisse der parteilichen Programmatik erforderlich sind. Solche Kenntnisse können nicht als bekannt vorausgesetzt werden, so dass sich in der Folge eine bestimmte Lesart aufdrängen müsste. Ein Angriff auf die Menschenwürde zur Begründung eines volksverhetzenden Gehalts einer Wahlwerbung kann nach der Überzeugung des Senats aber im Einzelfall sehr wohl unter Rückgriff auf das Parteiprogramm der werbenden Partei bzw. ihre innere Haltung abgeleitet werden, wenn jedenfalls dieser dauerhafte Kern des Parteiprogramms dem Wahlbürger als Adressaten so präsent ist, dass er die Aussage auch unter Berücksichtigung dieses Wissens auslegen und verstehen muss. Soweit das Bundesverfassungsgericht in zwei Kammerentscheidungen,
130vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 7. Juli 2020– 1 BvR 479/20 –, juris, Rn. 15, und vom 15. Mai 2019 – 1 BvQ 43/19 –, juris, Rn. 12,
131einen solchen Rückgriff ohne weitergehende Begründung generell nicht für möglich erachtet hat, folgt der Senat dem nicht. Dies gilt jedenfalls für den Fall, dass das Bundesverfassungsgericht selbst die Verfassungswidrigkeit einer Partei durch Urteil festgestellt hat und hierbei zur Begründung ausgeführt hat, diese positioniere sich in die Menschenwürde verletzender Art und Weise gegenüber einer Personengruppe, die auch Gegenstand der Wahlwerbung ist, was dem unbefangenen Betrachter auch bekannt sein muss.
132In seiner Entscheidung betreffend das Verbot der NPD hat das Bundesverfassungsgericht diese als verfassungsfeindlich eingestuft. Ihre Politik ziele auf eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten autoritären „Nationalstaat“. Ihr politisches Konzept missachte die Menschenwürde aller, die der ethnischen Volksgemeinschaft nicht angehören. Folge dieses Konzepts seien menschenverachtende rassistische Positionierungen der NPD gegenüber gesellschaftlichen Gruppen, zu denen auch die Ausländer gehörten.
133Vgl. BVerfG, Urteil vom 17. Januar 2017 – 2 BvB 1/13 –, juris, Rn. 636 ff., 654, sowie 856 ff.
134Diese Umstände müssen nach der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts insoweit Berücksichtigung finden, soweit sie sich aus der Meinungskundgabe einschließlich der diese unmittelbar betreffenden Umstände selbst ergeben. Bei der rassistischen Positionierung der NPD handelt es sich nicht nur um eine spezifische Kundgabe eines politischen Ziels unter vielen in einem Wahlprogramm, welches dem Betrachter nicht unmittelbar erkennbar ist. Es handelt sich vielmehr gerade nach den Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts um den fortlaufenden und beständigen „Markenkern“ der NPD, also die zentrale Aussage, mit der sie fortlaufend in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. In der Folge ist das Wahlplakat über die vorgenannten Gründe hinaus auch deshalb so zu verstehen, dass der Kläger Migranten generell mit Mördern gleichsetzt und hierdurch dieser Gruppe generell einen sozialen Achtungsanspruch abspricht.
135So ist im Übrigen auch ein im Rahmen der Wahlwerbekampagne der NPD zunächst genutzter Fernseh- bzw. Radiowerbespot als volksverhetzend in der vorgenannten Art und Weise angesehen worden. Diese rechtliche Einordnung gründete in dem konkreten Fall zwar auch auf den in dieser Fassung eingesetzten dramaturgischen und weiteren Elementen,
136vgl. BVerfG, Beschluss vom 27. April 2019– 1 BvQ 36/19 –, juris, Rn. 2 (zur Konnexität der Aussage „Migration tötet“ und der Forderung nach Schaffung von Schutzzonen (nur) für Deutsche); vorgehend: OVG Rhl.-Pfalz, Beschluss vom 26. April 2019 – 2 B 10639/19 –, juris, Rn. 10; Beschluss des erkennenden Senats vom 24. April 2019 – 5 B 543/19 –, juris, Rn. 28 ff.,
137die abschließende und zentrale Botschaft „Migration tötet“ lasse aber letztlich allein die Auslegung zu, dass die angesprochenen Personen in ihrer Gesamtheit eine direkte Gefahr für Deutsche seien.
138In der Folge war das Wahlplakat auch geeignet, den öffentlichen Frieden zu gefährden. Dies ist jedenfalls dann der Fall, wenn offene oder latente Gewaltpotentiale geschaffen werden, ein Zusammenleben ohne Furcht etwa um Leib und Leben, nicht mehr möglich ist und damit in dem angegriffenen Bevölkerungsteil das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird. Dabei setzt dieses Merkmal nicht voraus, dass der öffentliche Friede schon gestört worden ist. Es genügt, dass berechtigte Gründe für die Befürchtung vorliegen, der Angriff werde das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttern, sei es auch nur bei der Bevölkerungsgruppe, gegen die er sich richtet.
139Vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 4 StR 283/05 –, juris, Rn. 20; Sternberg-Lieben/Schittenhelm, in: Schönke/Schröder, StGB, 30. Auflage 2019, § 130 Rn. 10 f.
140Durch die Gestaltung und den Inhalt des Wahlplakats wird, wie schon das Verwaltungsgericht ausgeführt hat, jedenfalls bei „Nichtmigranten“ das Vertrauen in die Sicherheit von Leib und Leben erschüttert, das sie davon ausgehen müssten, ebenfalls Opfer eines von unzähligen Angriffen seitens zugewanderter Personen zu werden. Umgedreht musste das Plakat seitens der betroffenen Migranten so verstanden werden, dass sie alle als Mörder anzusehen seien, gegen die man sich wehren müsse.
141Ob der mit dem zentralen Aussagegehalt „Migration tötet“ weiter verbundene Slogan „Widerstand jetzt“ hierbei neben seiner Appellfunktion auch dahingehend ausgelegt kann, dass ein eben solcher nicht nur als notwendig, sondern wegen der Art und Weise der Gefahr als moralisch oder gar rechtlich gerechtfertigt dargestellt wird, wie das Verwaltungsgericht angenommen hat, kann in der Folge offenbleiben.
142Inhalt und Gestaltung des streitgegenständlichen Wahlplakats sind nach dem Vorstehenden auch in evidenter und schwerwiegender Weise volksverhetzend. Vor diesem Hintergrund bedarf es keiner Entscheidung, ob die Rechtsprechung insbesondere des Bundesverfassungsgerichts zur Weigerung einer (öffentlich-rechtlichen) Rundfunkanstalt, einen Wahlwerbespot auszustrahlen,
143vgl. diesbezüglich: BVerfG, Beschlüsse vom 15. Mai 2019 – 1 BvQ 43/19 –, juris, Rn 10, vom 25. April 1985 – 2 BvR 617/84 – juris, Rn. 33, und vom 14. Februar 1978 – 2 BvR 523/75 – juris, Rn. 102 ff.; vgl. auch Beschluss des erkennenden Senats vom 24. April 2019 – 5 B 543/19 –, juris, Rn. 7,
144auf Ordnungsverfügungen zum Abhängen von Plakaten zu übertragen ist.
145Dies bejahend: OVG Sachsen, Beschluss vom 23. Mai 2019 – 3 B 155/19 – juris, Rn. 8; nachfolgend und im Ergebnis bestätigend: BVerfG, Beschluss vom 24. Mai 2019 – 1 BvQ 45/19 –, juris, Rn. 18.
146Die vorgenannte Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass, wenn die öffentliche Gewalt in die Teilnahme der politischen Parteien an den Wahlen und damit in den Kernbereich der Parteitätigkeit in einer Weise eingreift, dass dadurch die Chancengleichheit der politischen Parteien verändert werden kann, ihrem Ermessen besonders enge Grenzen gezogen sind. Ein solcher (schwerwiegender) Eingriff stellt eine Beschränkung des für die Wahlen notwendigen freien Willensprozesses der Bürger dar. Diesem kann die ihm anvertraute Entscheidung über den Wert der Programme der politischen Parteien erschwert oder gar unmöglich gemacht werden. Dabei kann von Verfassungs wegen nicht außer Betracht bleiben, dass derartige schwerwiegenden Rechtsnachteile faktisch nicht mehr ausgeglichen werden können, wenn eine Wahlsendung nach summarischer Prüfung abgelehnt worden ist, sich dies später aber bei umfassender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung im verwaltungsgerichtlichen Hauptsacheverfahren oder in einem Strafverfahren als falsch erweist. Wegen der zeitlichen Nähe zum Wahltermin wird dieser dann regelmäßig verstrichen sein.
147Für eine Übertragung dieses Maßstabs spricht, dass Wählerinnen und Wähler sich den Botschaften der Parteien bei der Benutzung des öffentlichen Straßenraums regelmäßig deutlich weniger entziehen können als anderen Formen der – ggf. zielgerichteteren – Wahlwerbung. Wahlplakate im Straßenraum sind dabei angesichts des geringen Aufwands, der mit ihrer Erstellung einhergeht, auch besonders geeignet, auf die Positionen der sog. „kleinen Parteien“ aufmerksam zu machen. Dabei ist zwar in der Tat die Reichweite einiger weniger Plakate nicht mit der etwa des landesweiten Fernseh- oder Hörfunkprogramms zu vergleichen.
148Hierauf abstellend OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. Mai 2019 – 11 ME 189/19 –, juris, Rn. 6 (betreffend zwei Plakate an einem einzelnen Standort).
149Die Reichweite eines vielfach im Stadtgebiet einer Großstadt verteilten Wahlplakats kann aber die eines Hörfunkspots etwa in einem (lokalen) Radiosender etwa aufgrund der Länge der Einwirkung deutlich übertreffen.
150Ob neben der Verletzung der öffentlichen Sicherheit die Gestaltung des streitgegenständlichen Wahlplakats auch eine Störung der öffentlichen Ordnung dargestellt hat und ob für eine solche Annahme im Hinblick auf die Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit noch Raum bestehen kann, wenn die betreffende Äußerung – anders als vom Senat angenommen – unterhalb der Schwelle zur Strafbarkeit aus § 130 StGB bleibt,
151vgl. hierzu nur: BVerfG, Beschluss vom 24. März 2001 – 1 BvQ 13/01 –, juris, Rn. 26 ff., sowie vorgehend (abweichend) OVG NRW, Beschluss vom 23. März 2001 – 5 B 395/01 –, juris, Rn. 12 ff.,
152bedarf hier nach dem Obenstehenden keiner näheren Betrachtung.
153Die von der Beklagten getroffene Störerauswahl weist keine Rechtsfehler auf. Selbst wenn man mit dem Kläger davon ausgeht, dass die streitgegenständlichen Wahlplakate nicht im Eigentum des Klägers als Kreisverband standen, sondern im Eigentum der Bundespartei, ergibt sich eine Zustandsverantwortlichkeit des Klägers hinsichtlich der Wahlplakate jedenfalls aus § 18 Abs. 2 Satz 1 OBG NRW, da dieser als Inhaber der tatsächlichen Gewalt über die Wahlwerbeplakate anzusehen war. Auch wenn man unterstellt, dass die Beklagte die seitens des Klägers behauptete Differenzierung überhaupt erkennen konnte, was sich aus dem Vortrag nicht ergibt, konnte die Beklagte die Ordnungsverfügung jedenfalls an den vor Ort tatsächlich tätigen Kreisverband der Partei richten, weil dessen Inanspruchnahme eine effektivere Gefahrenabwehr erwarten ließ. So hat auch der damalige Kreisvorsitzende erklärt, dass mehrere Gruppen (des Kreisverbandes) die Plakate aufgehängt hätten und er deshalb nicht für die Entfernung aller Plakate garantieren könne.
154Schließlich war die Beklagte auch nicht gehalten, dem Kläger mit der Ordnungsverfügung (lediglich) das Überkleben der beanstandeten Teile des Wahlplakats aufzugeben. Dies hätte nämlich zur Folge gehabt, dass in der Wahrnehmung der Adressaten der Wahlwerbung diese einen so von dem Kläger möglicherweise nicht gewollten Inhalt gehabt hätte. Eine solche Veränderung der Wahlwerbung von Parteien staatlicherseits wäre vor Art. 21 Abs. 1 GG nicht zu rechtfertigen. Dem Kläger hätte es aber nach § 21 Satz 2 OBG NRW freigestanden zu beantragen, die Wahlplakate nicht abhängen zu müssen, sondern in gleichwirksamer Weise lediglich zu überkleben. Hiervon hat er keinen Gebrauch gemacht.
155Die von der Beklagten angedrohte Vollstreckung der Ordnungsverfügung im Wege der Ersatzvornahme hat ihre Rechtsgrundlage in den §§ 55 Abs. 1, 57 Abs. 1 Nr. 1, 59 Nr. 1 Satz 1, 63 Abs. 1, 2, 6 VwVG NRW. Die Beklagte konnte von der Androhung der voraussichtlichen Kosten absehen, weil diese offensichtlich in der Kürze der Zeit und in Unkenntnis der Anbringungsorte nicht zu ermitteln waren.
156Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO.
157Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711, § 709 Satz 2 ZPO.
158Die Revision ist nach § 132 Abs. 1, 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen, weil der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt. Dies gilt insbesondere mit Blick auf die unterschiedliche Rechtsprechung der Verwaltungs- und auch der Strafgerichte zu der Frage, ob das verwendete Wahlplakat den Tatbestand des § 130 Abs. 1 Nr. 2 StGB erfüllt.