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Allein das öffentliche Zeigen der Reichsflagge (Farbenfolge Schwarz-Weiß-Rot) begründet nicht die Annahme einer Gefahr für die öffentliche Ordnung im Sinne von § 14 Abs. 1 OBG NRW. Eine solche Gefahr kann sich aus dem Gesamtkontext der Verwendung der Flagge ergeben. Es müssen Umstände hinzutreten, die darauf schließen lassen, dass zu Einschüchterung, Diskriminierung und Gewalt aufgerufen wird.
Einzelfall eines Ermessensnichtgebrauchs, in dem die Behörde sich zu Unrecht durch eine Verwaltungsvorschrift gebunden gesehen hat.
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Arnsberg vom 14. Februar 2023 mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert. Die aufschiebende Wirkung der Klage 6 K 406/23 gegen die Ordnungsverfügung vom 7. Februar 2023 wird hinsichtlich Ziffer 1 wiederhergestellt und hinsichtlich Ziffer 3 angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens beider Instanzen.
Der Streitwert wird auch für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 Euro festgesetzt.
G r ü n d e :
2Die Beschwerde des Antragstellers gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ist begründet. Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt es nach Maßgabe des § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO, die angefochtene Entscheidung wie begehrt zu ändern.
3Die Ordnungsverfügung vom 7. Februar 2023 erweist sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig. Nach § 14 Abs. 1 OBG NRW können die Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren.
4Es kann im Ergebnis offen bleiben, ob – was hier einzig in Betracht kommt – eine Gefahr für die öffentliche Ordnung vorliegt. Aus den Ausführungen der Ordnungsverfügung selbst ergibt sich das Bestehen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung nicht. Die Antragsgegnerin hat sich insoweit auf die Wiedergabe der abstrakten Grundsätze zum Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung beschränkt, ohne eine konkrete Subsumtion im Einzelfall, insbesondere zu etwaigen zum Zeigen der Reichsflagge konkret hinzutretenden Umständen vorzunehmen. Mit Blick auf den gerichtlich voll überprüfbaren Tatbestand des § 14 Abs. 1 OBG NRW ist aber darauf abzustellen, ob tatsächlich Umstände gegeben sind, die die Verwendung der Reichsflagge hier zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung machen.
5Als öffentliche Ordnung wird gemeinhin die Gesamtheit jener ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit verstanden, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Gemeinschaftslebens betrachtet wird. Zur Beurteilung der Frage, ob im Einzelfall ein Verhalten nach den herrschenden Anschauungen der Bevölkerung gegen die ungeschriebenen Regeln des gedeihlichen Miteinanderlebens verstößt, können insbesondere Wertungen des Gesetzgebers, die den jeweiligen Bereich betreffenden Normen zu entnehmen sind, herangezogen werden. Dies zugrunde gelegt, reicht allein das Zeigen der Reichsflagge für sich genommen – so auch das Verwaltungsgericht und der von der Antragsgegnerin herangezogene Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3. August 2021 (31-07.02-2904/20) – nicht aus, um eine Gefahr für die öffentliche Ordnung zu begründen. Nach der Rechtsprechung kann sich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung jedoch aus dem Gesamtkontext der Verwendung der Flagge ergeben. Insoweit dürften im Ausgangspunkt dieselben Grundsätze gelten, wie für die Verwendung der Reichskriegsflagge. Dabei kommt es darauf an, ob ein Beobachter die Verwendung so verstehen kann, dass zu Einschüchterung, Diskriminierung und Gewalt gegenüber den in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Ausländern aufgerufen wird.
6Vgl. zur Reichskriegsflagge OVG NRW, Beschluss vom 22. Juni 1994 – 5 B 193/94 –, juris; zum Versammlungsrecht OVG NRW, Beschluss vom 7. Januar 2020 – 15 A 4693/18 – juris, Rn. 10 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 13. November 2020 – 11 ME 293/20 –, NdsVBl 2021, 148, juris, Rn. 38 f.; OVG Bremen, Beschluss vom 23. Oktober 2020 – OVG 1 B 331/20 –, juris, Rn. 18 f.
7Die Umstände, aus denen sich ein derartiger Aufruf zu Einschüchterung, Diskriminierung und Gewalt ergeben kann, dürften zur Begründung einer Gefahr für die öffentliche Ordnung in Fällen des Zeigens der Reichsflagge,
8vgl. zu ihrer Symbolik BVerwG, Beschluss vom 21. September 2020 – 6 VR 1.20 u.a. – juris, Rn. 22,
9deutlicher hervortreten müssen als beim Zeigen der Reichskriegsflagge, weil dieser bereits ein militärischer Charakter zukommt. In derartigen Fällen kann beim Hinzutreten bestimmter Umstände von der Verwirklichung einer Straftat nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 StGB (und damit einem Verstoß gegen die öffentliche Sicherheit) ausgegangen werden.
10Vgl. VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 15. Juni 2005 – 1 S 2718/04 –, NJW 2006, 635, juris, Rn. 19 ff., Brandenburgisches OLG, Urteil vom 28. November 2001 – 1 Ss 52/01 –, juris, Rn. 13 f.; Schäfer/Anstötz, in: Münchener Kommentar zum StGB, 4. Aufl. 2021, § 130 Rn. 42.
11Mit Blick auf diese Anforderungen bedarf keiner Entscheidung, ob die vom Verwaltungsgericht angeführten zum Hissen der Reichsflagge hinzutretenden Umstände ausreichen, um von einer Gefahr für die öffentliche Ordnung auszugehen. Die Reichsflagge ist nach dem im Verwaltungsvorgang befindlichen Bildmaterial prominent mit weiteren Flaggen (u. a. der Partei) an der Vorderfront des Gebäudes angebracht, in dem die Partei „E. X. “ ihr Parteibüro unterhält. Die ausländerfeindlichen und diskriminierenden Plakate („L. L1. muss weg! Wählt Deutsch!“, „Homopropaganda stoppen“) und die Hinweise auf das rechtsextremistische Staats- und Gesellschaftsbild sowie das völkisch-nationalistische Gedankengut der Partei, die ebenfalls an der Front des Gebäudes angebracht sind, könnten für einen objektiven Beobachter als Aufruf zur Diskriminierung verstanden werden, dürften aber am unteren Rand der von der Rechtsprechung aufgestellten Kriterien anzusiedeln sein.
12Ungeachtet der Frage des Vorliegens der Tatbestandsvoraussetzung leidet die Ordnungsverfügung an einem Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs. Ein solcher liegt vor, wenn die Verwaltung bereits übersieht, dass eine Ermessensnorm vorliegt und sich gebunden fühlt. Die Verwaltung ist zur Ausübung ihres Ermessens nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Kommt die Verwaltung dieser Pflicht nicht nach, ist der Fehler nachträglich nicht heilbar. Ob die Verwaltung von der Ermessensermächtigung Gebrauch gemacht hat, ist anhand aller erkennbaren Umstände zu beurteilen, primär aus der Entscheidungsbegründung. Fehlen Ausführungen zum Ermessen vollständig, spricht a priori alles für einen Ermessensausfall.
13Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 1983 – 3 C 27.82 –, BVerwGE 68, 267, juris, Rn. 67 ff.; Bay. VGH, Beschluss vom 13. September 2018 – 4 ZB 17.1387 –, BayVBl 2019, 448, juris, Rn. 15; Wolff, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 114 Rn. 114a ff.; Riese, in: Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht, Stand August 2022, § 114 VwGO Rn. 60.
14Kein Ermessensnichtgebrauch liegt vor, wenn ein nach dem Gesetz bestehender Ermessensspielraum im Einzelfall ausnahmsweise auf Null reduziert ist. Darüber hinaus wird man auch dann nicht von einem Ermessensausfall sprechen können, wenn die Behörde eine ermessensbindende Verwaltungsvorschrift angewendet und lediglich eine Ausnahme nicht erwogen hat. Dies kann aber nur dann gelten, wenn eine bindende Vorgabe tatsächlich vorliegt.
15Vgl. BVerwG, Beschluss vom 22. Januar 2003 – 1 WB 53.02 –, ZBR 2003, 320, juris, Rn. 18 f.; Schübel-Pfister, in: Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 114 Rn. 19.
16Gemessen hieran hat die Antragsgegnerin das ihr zustehende Ermessen nicht ausgeübt. Die Ordnungsverfügung vom 7. Februar 2023 enthält – so im Ausgangspunkt auch das Verwaltungsgericht – hinsichtlich ihrer Ziffer 1 keine Ausführungen zur Rechtsfolgenseite. Nach den – unzulänglichen – Ausführungen zum Vorliegen einer Gefahr für die öffentliche Ordnung enden die Feststellungen zu Ziffer 1, es folgen Ausführungen zur Anordnung der sofortigen Vollziehung sowie zur Zwangsmittelandrohung. Schließlich endet die Ordnungsverfügung – vor der abschließenden Rechtsmittelbelehrung – mit einem Absatz zur „Ausnahme einer Anhörung“ hinsichtlich der Grundverfügung.
17Eine Ermessensausübung kann auch nicht – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – in der im Rahmen der Ausführungen zur Tatbestandsseite erfolgten Bezugnahme auf den Erlass des Ministeriums des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen vom 3. August 2021 gesehen werden. Dieser sieht in Ziffer 4 vor, dass die Ordnungsbehörden bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für die öffentliche Ordnung „gehalten“ sind, „im Rahmen der Ausübung pflichtgemäßen Ermessens bezogen auf den jeweiligen Einzelfall das Zeigen oder Verwenden der Reichs(kriegs)flaggen in der Öffentlichkeit auf der Grundlage der hierfür einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu unterbinden“. Eine Ermessensbindung, die nach dem oben Gesagten eine weitere Ermessensbetätigung entbehrlich machen könnte, lässt sich dem Erlass nicht entnehmen. Er geht trotz der missverständlichen Formulierung („gehalten“) mit Blick auf die Rechtsfolgenseite vielmehr davon aus, dass nach Feststellung des Vorliegens einer Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung eine (ggf. gelenkte) Ermessensentscheidung im Einzelfall auf Rechtsgrundlage der § 14 Abs. 1 OBG bzw. § 8 Abs. 1 PolG NRW stattzufinden hat. Dies ergibt sich auch aus dem letzten Satz zu Ziff. 4 des Erlasses, nach welchem sogar bei der Verwendung von (mehreren) Reichskriegsflaggen im Zusammenhang mit Versammlungen als milderes Mittel eine Begrenzung der Zahl der Flaggen in Betracht zu ziehen ist. Eine strikte Bindung ohne Möglichkeit der Berücksichtigung der etwaigen Besonderheiten des Einzelfalls dürfte im Übrigen – auch mit Blick auf die Betroffenheit des in Art. 5 Abs. 1 GG verankerten Grundrechts der Meinungsfreiheit und die vielen denkbaren Umstände und Fallgestaltungen, die nach Ziff. 3 des Erlasses im Rahmen des Tatbestandes zur Annahme einer Gefahr für die öffentliche Ordnung führen können, sowie angesichts einer fehlenden Unterscheidung zwischen Reichsflaggen und Reichskriegsflaggen – nicht rechtmäßig sein.
18Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. Juni 1979 – 6 B 33.79 –, DÖV 1979, 793, juris, Rn. 5.
19Die danach erforderliche Ermessensausübung hat die Antragsgegnerin nicht umgesetzt, indem sie sich gerade unter Bezugnahme auf den Erlass für verpflichtet hielt, die streitgegenständliche Ordnungsverfügung zu erlassen. Für die vom Verwaltungsgericht zugrunde gelegte Annahme, die Antragsgegnerin sei sich ihres Ermessens bewusst gewesen und habe dieses aufgrund des Erlasses als auf Null reduziert angesehen, fehlt im Rahmen der Begründung der Ordnungsverfügung jeglicher objektive Anhalt. Entscheidend ist mit Blick auf die Ermessensreduzierung auf Null darüber hinaus nicht die Vorstellung der Antragsgegnerin, sondern die objektive Lage. Das tatsächliche Vorliegen einer Ermessensreduzierung auf Null ist vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen indes weder vorgetragen noch sonst erkennbar.
20Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
21Die Streitwertfestsetzung beruht auf den § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 und 2 GKG.
22Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).