Seite drucken
Entscheidung als PDF runterladen
1. Der Antragstellerin wird für das Verfahren erster Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt, § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 Abs. 1, 115 ZPO.
2. Die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3509/19 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. November 2019 wird hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts wiederhergestellt und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 2.500,- € festgesetzt.
G r ü n d e :
2Der sinngemäß gestellte Antrag der anwaltlich nicht vertretenen Antragstellerin,
3die aufschiebende Wirkung der Klage 8 K 3509/19 gegen die Ordnungsverfügung der Antragsgegnerin vom 8. November 2019 hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts wiederherzustellen und hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen,
4hat Erfolg.
51. Soweit die Antragstellerin die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die in der Ordnungsverfügung vom 8. November 2019 getroffene Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts begehrt, ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO zulässig, weil die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung dieser Regelung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gesondert angeordnet hat.
6Der Aussetzungsantrag ist auch begründet.
7Zwar ist das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts ordnungsgemäß schriftlich begründet worden (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Die Antragsgegnerin hat einzelfallbezogen und nicht nur formelhaft dargelegt, dass ein Abwarten des rechtskräftigen Abschlusses des Hauptsacheverfahrens wegen der nicht gerechtfertigten Belastung des öffentlichen Haushalts infolge des Bezugs öffentlicher Leistungen durch die Antragstellerin seit Beginn ihres Aufenthalts im Bundesgebiet nicht hingenommen werden könne. Ob diese Begründung auch in der Sache trägt, ist im Rahmen des Begründungserfordernisses, das lediglich eine formelle Rechtmäßigkeitsvoraussetzung der Sofortvollzugsanordnung darstellt, unerheblich.
8Vgl. hierzu: Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 7. Aufl. 2018, § 80, Rn. 54.
9Die im Rahmen des Aussetzungsverfahrens vorzunehmende Interessenabwägung fällt jedoch zulasten der Antragsgegnerin aus. Entfällt die aufschiebende Wirkung kraft Gesetzes oder - wie hier - aufgrund behördlicher Anordnung, kann das Gericht gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Dabei nimmt es eine eigene Interessenabwägung vor, bei der das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des angegriffenen Verwaltungsakts gegen das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs abzuwägen ist. Maßgebliches Kriterium sind hierbei zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache. Erweist sich der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig, überwiegt regelmäßig das private Aussetzungsinteresse. Stellt sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das Vollzugsinteresse. Lässt sich bei der Prüfung im Eilverfahren eine Offensichtlichkeitsbeurteilung nicht treffen, kommt es entscheidend auf eine Abwägung zwischen den für eine sofortige Vollziehung sprechenden Interessen und dem Interesse des Antragstellers an einer Aussetzung der Vollziehung bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren an. Die Erfolgsaussichten sind dabei auch unabhängig von einer fehlenden Offensichtlichkeit einzubeziehen.
10Davon ausgehend bestehen vorliegend gewichtige Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts, die es rechtfertigen, dem Interesse der Antragstellerin, von einem vollendete Tatsachen schaffenden Vollzug vorläufig verschont zu bleiben, Vorrang einzuräumen und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Insbesondere besteht in tatsächlicher Hinsicht in mehreren Punkten noch Aufklärungsbedarf, der grundsätzlich dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben muss.
11Die Antragstellerin kann die Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts voraussichtlich nicht auf die hier allein in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage des § 5 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU stützen. Nach dieser Vorschrift kann der Verlust des Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt werden, wenn die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU innerhalb von fünf Jahren nach Begründung des ständigen rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet entfallen sind oder nicht mehr vorliegen.
12Es spricht Einiges dafür, dass schon die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Bestimmung im Fall der Antragstellerin nicht vorliegen.
13a) Zwar steht der Antragstellerin im maßgeblichen Beurteilungszeitunkt der gerichtlichen Entscheidung ein Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG nicht (mehr) zu.
14Nach dieser Vorschrift sind freizügigkeitsberechtigt, d.h. zur Einreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU), u.a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer im Bundesgebiet aufhalten wollen.
15Die Antragstellerin ist keine Arbeitnehmerin mehr, da sie bereits seit Anfang Juni 2015 krankheitsbedingt keiner unselbständigen Beschäftigung mehr im Bundesgebiet nachgeht.
16Die Eigenschaft als Arbeitnehmerin und damit auch das Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU ist ihr auch nicht nach § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG erhalten geblieben.
17Danach bleibt das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU für Arbeitnehmer und selbständige Erwerbstätige bei vorübergehender Erwerbsminderung infolge Krankheit oder Unfall unberührt.
18Die Regelung enthält in Übereinstimmung mit Art 7. Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG - und anders als § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 FreizügG/EU - keine besondere Voraussetzung bezüglich der Dauer der von dem Unionsbürger ausgeübten Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer, die erforderlich wäre, um die Arbeitnehmereigenschaft zu behalten. Es genügt, dass der Unionsbürger - wie hier die Antragstellerin laut Rentenversicherungsverlauf - eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausgeübt hat, wobei lediglich Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.
19Vgl. hierzu: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 113.
20Der in § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU verwendete Begriff der „vorübergehenden Erwerbsminderung“ weicht allerdings von Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EG ab. Letzterer spricht - in Übereinstimmung mit anderen Sprachfassungen der Bestimmung - von „vorübergehender Arbeitsunfähigkeit“ („temporarily unable to work“, „incapacité de travail temporaire“). Daher dürfte der Begriff der Erwerbsfähigkeit so auszulegen sein, dass auf eine vorübergehende Arbeitsunfähigkeit abzustellen ist und nicht auf eine vorübergehende Erwerbsminderung im Sinne des deutschen Rentenrechts (§ 43 Abs. 1 SGB VI). Der Begriff der Arbeitsunfähigkeit ist arbeitsplatzbezogen zu verstehen und nicht wie der der Erwerbsminderung arbeitsmarktbezogen.
21Vgl. Bay LSG, Beschluss vom 20. Juni 2016 - L 16 AS 284/16 B ER -, juris, Rn. 23; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 114 f. m.w.N.
22Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger vorübergehend aufgegeben hat, die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG und das damit verbundene Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nur dann behalten, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig ist und hierfür zur Verfügung steht. Zum einen betrifft Art. 7 Abs. 3 a) der Richtlinie 2004/38/EU nämlich Unionsbürger, die infolge einer Krankheit oder eines Unfalls vorübergehend arbeitsunfähig wurden, was bedeutet, dass sie wieder eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausüben können, sobald die vorübergehende Arbeitsunfähigkeit beendet ist. Zum anderen müssen sich nicht erwerbstätige Unionsbürger nach Art. 7 Abs. 3 b) und c) der Richtlinie 2004/38/EG dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung stellen, während sie nach Art. 7 Abs. 3 d) der Richtlinie 2004/38/EU zu festgelegten Bedingungen eine Berufsausbildung beginnen müssen. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG betrifft somit Situationen, in denen innerhalb eines angemessenen Zeitraums mit der Wiedereingliederung des Unionsbürgers in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats gerechnet werden kann.
23Vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018, C-618/16, Prefeta, Rn. 37 f.
24Eine Erwerbsminderung bzw. Arbeitsunfähigkeit i.S.v. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU ist daher nur dann als vorübergehend anzusehen, wenn aufgrund einer ärztlichen Prognose mit der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit in angemessener Zeit gerechnet werden kann (vgl. auch Nr. 2.3.1.1 AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016). Dementsprechend führt eine dauerhafte Erwerbsunfähigkeit wie auch der Eintritt in das Rentenalter, wenn keine Erwerbstätigkeit mehr ausgeübt werden soll, zum Wegfall der Rechtsposition aus § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU.
25Vgl. Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 2 FreizügG/EU, Rn. 111.
26Ausgehend von diesen Maßstäben ist die Arbeitnehmereigenschaft der Antragstellerin mit Eintritt ihrer Arbeitslosigkeit Anfang Juni 2015 entfallen. Ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit war - und ist - nicht nur vorübergehender Natur. Eine tragfähige ärztliche Prognose, wonach mit einer Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Antragstellerin in angemessener Zeit zu rechnen - gewesen - wäre, lag - und liegt - nicht vor. Aus den vorgelegten Attesten der Fachärztin für Allgemeinmedizin K. vom 6. Juli 2017 und vom 1. September 2017 geht hervor, dass die Antragstellerin aufgrund ihrer im Juni 2015 diagnostizierten Krebserkrankung (Gebärmutterhalskrebs) seitdem arbeitsunfähig sei und in den nächsten Monaten auch nicht auf dem Arbeitsmarkt vermittelbar sei. Selbst leichte Tätigkeiten könnten von ihr nicht verrichtet werden. Soweit Frau K. in dem Attest vom 1. September 2017 die Einschätzung geäußert hat, dass die Antragstellerin nach einer weiteren Stabilisierung ggf. in 8 bis 12 Monaten wieder leichte Tätigkeiten von 3 bis 4 Stunden verrichten könne, hat sich diese Prognose - unabhängig von der Frage ob, aus dem so umschriebenen Leistungsumfang überhaupt eine Arbeitsfähigkeit im vorstehenden Sinne folgt - im Nachhinein nicht bestätigt. Der Amtsarzt Dr. A. kommt nämlich in dem vom Jobcenter eingeholten Gutachten des Gesundheitsamtes vom 10. Januar 2019 zu dem Ergebnis, dass die Antragstellerin voraussichtlich bis zu 6 Monate weniger als 3 Stunden täglich leistungsfähig sei. Sie sei aktuell - nach wie vor - nicht in der Lage, einer regelmäßigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Es sei eine erneute Operation im Februar 2019 in Maastricht vorgesehen. Das Ergebnis sei abzuwarten. Eine Nachuntersuchung sei nach Ablauf von 6 Monaten erforderlich. Die Arbeitsfähigkeit der Antragstellerin konnte bis heute nicht wiederhergestellt werden. Nach der Operation im Februar 2019 (Anlage einer Harnröhrenschließmuskelprothese zur Behebung der Vollinkontinenz) folgten weitere operative Eingriffe, u.a. am 12. September 2019 (Entfernung der Harnblase und Anlage eines Urostoma). Ausweislich des zuletzt vorgelegten Attests von Frau K. vom 23. November 2019 ist die Antragstellerin seit ihrer im Jahr 2015 diagnostizierten Krebserkrankung ‑ immer noch - bis auf weiteres arbeitsunfähig. Eine Wiederherstellung ihrer Arbeitsfähigkeit habe aufgrund von Komplikationen bisher nicht erreicht werden können. Bei einer demnach seit inzwischen über 5 Jahren andauernden Arbeitsunfähigkeit kann jedoch keinesfalls mehr von einer nur vorübergehenden Erwerbsminderung i.S.v. § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU gesprochen werden. Die Antragstellerin ist zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt aktuell nicht fähig und steht diesem auch nicht zur Verfügung.
27b) Die Antragstellerin hat auch ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG nicht erworben.
28Nach dieser Vorschrift haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt.
29Dies ist bei der Antragstellerin im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht der Fall, weil sie - wie dargelegt - seit Juni 2015 nicht mehr freizügigkeitsberechtigt ist und sich damit nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält.
30Die Antragstellerin hat ein Daueraufenthaltsrecht nach dieser Vorschrift auch nicht etwa schon zu diesem Zeitpunkt (Juni 2015) erworben mit der Folge, dass der spätere Wegfall der Arbeitnehmereigenschaft unerheblich wäre. Denn die Antragstellerin hielt sich nach ihrer (erneuten) Einreise zur Arbeitssuche am 25. August 2011 und ihrer ausweislich des Rentenversicherungsverlaufs seit dem 24. April 2012 - mit Unterbrechungen - bis zum 6. Juni 2015 ausgeübten unselbständigen Beschäftigungen noch keine fünf Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet auf.
31c) Es spricht jedoch Vieles dafür, dass die Antragstellerin ein Daueraufenthaltsrecht nach der Ausnahmevorschrift des § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU i.V.m. Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EU erworben haben könnte.
32Danach haben Unionsbürger nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 3 FreizügG/EU abweichend von § 4a Abs. 1 FreizügG/EU vor Ablauf von fünf Jahren das Daueraufenthaltsrecht, wenn sie ihre Erwerbstätigkeit infolge einer vollen Erwerbsminderung aufgeben, nachdem sie sich zuvor mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten haben.
33Die Antragstellerin war bis zum Eintritt ihrer krankheitsbedingten Arbeitslosigkeit Anfang Juni 2015 Arbeitnehmerin, da sie bis zum 6. Juni 2015 eine unselbständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Sie hat sich zuvor auch mindestens zwei Jahre ständig im Bundesgebiet aufgehalten, weil sie - wie dargelegt - am 25. August 2011 (erneut) zur Arbeitssuche ins Bundesgebiet eingereist ist und sich seitdem hier ununterbrochen aufgehalten hat.
34Zwar setzen § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU sowie Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG nach ihrem Wortlaut die Rechtmäßigkeit des mindestens zweijährigen Voraufenthalts nicht ausdrücklich voraus. Der systematische Zusammenhang der Regelung mit § 4a Abs. 1 FreizügG/EU bzw. mit Art. 16 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG, die jeweils einen ständigen bzw. ununterbrochenen rechtmäßigen fünfjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet bzw. Aufnahmemitgliedstaat voraussetzen und von denen § 4a Abs. 2 FreizügG/EU bzw. Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG eine Ausnahme in zeitlicher Hinsicht machen, legt ein solches Verständnis jedoch nahe. Eine bestimmte Mindestzeit der Erwerbstätigkeit verlangt die Vorschrift - anders als etwa § 4a Abs. 2 Nr. 1 oder 3 FreizügG/EU bzw. Art. 17 Abs. 1 a) und c) der Richtlinie 2004/38/EU - hingegen nicht. Die Voraussetzung eines mindestens zweijährigen rechtmäßigen Aufenthalts dürfte im Fall der Antragstellerin jedoch auch erfüllt sein. Nach der Einreise war ihr Aufenthalt zunächst zur Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a AufenthG rechtmäßig. Nach der Aufnahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit am 24. April 2012 ergab sich die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG. Während der Zeiten der vorübergehenden - wohl unfreiwilligen - Arbeitslosigkeit und des Sozialleistungsbezugs (5. Dezember 2012 bis 25. Juni 2014 sowie 1. November 2014 bis 6. Januar 2015) dürfte die Arbeitnehmereigenschaft und damit auch das Aufenthaltsrecht gemäß § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 3 c) der Richtlinie 2004/38/EG zunächst für sechs Monate fortbestanden haben. In der Phase der ersten Arbeitslosigkeit dürfte danach gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU wieder ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche begründet worden sein. Ab dem 7. Januar 2015 war die Antragstellerin erneut - mit einer nur zweitägigen Unterbrechung - bis zum 6. Juni 2015 als Arbeitnehmerin beschäftigt und ihr Aufenthalt nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 a) der Richtlinie 2004/38/EG rechtmäßig. Insofern ggf. verbleibenden Zweifel hinsichtlich der Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit und damit des Fortbestehens der Arbeitsnehmereigenschaft nach § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU ist im Hauptsacheverfahren nachzugehen.
35Es spricht auch Überwiegendes dafür, dass die Antragstellerin ihre Erwerbstätigkeit im Juni 2015 infolge einer vollen Erwerbsminderung im Sinne der Vorschrift aufgeben musste. § 4a Abs. 2 Nr. 2 b) FreizügG/EU setzt Art. 17 Abs. 1 b) Satz 1 der Richtlinie 2004/38/EG um. In der Freizügigkeitsrichtlinie wird im Gegensatz zum FreizügG/EU nicht von „voller Erwerbsminderung“, sondern von „dauernder Arbeitsunfähigkeit“ („permanent incapacity to work“, „incapacité permanente de travail“) gesprochen. Daher dürfte der Begriff der Erwerbsfähigkeit auch in diesem Zusammenhang so auszulegen sein, dass auf eine dauernde Arbeitsunfähigkeit abzustellen ist und nicht auf eine volle Erwerbsminderung im Sinne des deutschen Rentenrechts (§ 43 Abs. 2 SGB VI). Dies entspricht zudem dem Sinn und Zweck der Vorschrift, einem erwerbstätigen Unionsbürger ein Daueraufenthaltsrecht schon nach einer kürzeren Aufenthaltszeit als fünf Jahren einzuräumen, wenn er unfreiwillig infolge einer dauerhaften ‑ krankheits- oder unfallbedingten - Arbeitsunfähigkeit aus dem Arbeitsmarkt ausscheidet, sofern er zumindest eine gewisse Mindestvoraufenthaltszeit und damit Integration im Mitgliedstaat aufweisen kann. Der Bezug einer Rente wird demgegenüber allein in Art. 17 Abs. 1 b) Satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG, umgesetzt durch § 4a Abs. 2 Nr. 2 a) FreizügG/EU, unabhängig von einer Mindestvoraufenthaltszeit für den privilegierten Erwerb eines Daueraufenthaltsrechts vorausgesetzt. Daher liegt es nahe, zur Auslegung des Begriffs der dauernden Arbeitsunfähigkeit die o.a. Rechtsprechung des EuGH zu Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie 2004/38/EG heranzuziehen. Eine solche ist daher anzunehmen, wenn der Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit aufgibt, in einem angemessenen Zeitraum nicht mehr zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmerkt fähig ist und hierfür nicht zur Verfügung steht.
36Dies dürfte bei der Antragstellerin nach den vorstehenden Ausführungen der Fall sein. Nach der zuletzt vorgelegten Stellungnahme der behandelnden Fachärztin K. vom 23. November 2019 sei die Antragstellerin seit Juni 2015 krankheitsbedingt nicht in der Lage, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit habe aufgrund von Komplikationen bisher nicht erreicht werden können. Eine Arbeitsunfähigkeit bestehe bis auf weiteres fort. Bei einem Ausscheiden aus dem Arbeitsmarkt von demnach inzwischen mehr als fünf Jahren dürfte eine dauernde Arbeitsunfähigkeit im vorgenannten Sinne vorliegen. Jedenfalls bedürfte dies aber weiterer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
37d) Ferner spricht Einiges dafür, dass der Antragstellerin darüber hinaus auch ein von ihrer Tochter, Frau L. -N. T. , abgeleitetes Freizügigkeitsrecht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 i.V.m. § 3 Abs. 1 und 2 Nr. 2 FreizügG/EU i.V.m. Art. 7 Abs. 1 d) der Richtlinie 2004/38/EG zusteht.
38Nach § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU sind Familienangehörige eines Unionsbürgers unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt. Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 FreizügG/EU genannten Unionsbürger - also u.a. Arbeitnehmer (Nr. 1) - das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Gemäß § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige u.a. die Verwandten in gerader aufsteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen Unterhalt gewähren.
39Diese Voraussetzungen dürften im Fall der Antragstellerin erfüllt sein.
40Die Tochter der Antragstellerin ist gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt, weil sie seit dem 2. Dezember 2019 - mit einer kurzen saisonbedingten Unterbrechung vom 1. April 2020 bis zum 17. Mai 2020 - einer unselbständigen Erwerbstätigkeit als Saisonarbeitnehmerin bei der Firma M. & T1. nachgeht. Ihr aktueller Arbeitsvertrag läuft bis zum 31. März 2021. Auch bei einer Saisonbeschäftigung handelt es sich um eine echte Beschäftigung am Arbeitsmarkt, die geeignet ist, die Arbeitnehmereigenschaft zu begründen.
41Vgl. zu Saisonarbeitnehmern als Arbeitnehmer i.S.v. Art. 45 AEUV: EuGH Urteil vom 12. Juni 2012, C-611/10 u.a., Hudzinski u.a.
42Ferner „begleitet“ die Antragstellerin ihre freizügigkeitsberechtigte Tochter im Sinne der Vorschrift, auch wenn Letztere erst nach der Antragstellerin ihren rechtmäßigen Aufenthalt in das Bundesgebiet verlagert hat. Der Begriff des „Begleitens“ in Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 7 Abs. 1 d) und Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG erfasst nämlich auch Fälle, in denen die familiäre Lebensgemeinschaft erst im Bundesgebiet hergestellt wurde. Es spielt daher keine Rolle, ob Familienangehörige eines Unionsbürgers vor oder nach diesem in den Aufnahmemitgliedstaat eingereist sind oder ob sie vor oder nach der Einreise Familienangehöriger des Unionsbürgers geworden sind, da die Weigerung des Aufnahmemitgliedstaats, ihnen ein Aufenthaltsrecht einzuräumen, gleichermaßen geeignet ist, den betroffenen Unionsbürger davon abzuhalten, sich weiter in diesem Mitgliedstaat aufzuhalten.
43Vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2008, C-127/08, Metock, Rn. 91 ff.; Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 3 FreizügG/EU, Rn. 11 f.
44Es spricht schließlich Einiges dafür, dass die Tochter der Antragstellerin dieser als Verwandter in gerader aufsteigender Linie auch Unterhalt i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU gewährt. Jedenfalls aber bedarf dies weiterer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
45Eine Unterhaltsgewährung i.S.v. § 3 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU liegt vor, wenn dem Verwandten tatsächlich Leistungen zukommen, die als Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhalts angesehen werden können. Dazu gehört eine fortgesetzte regelmäßige Unterstützung in einem Umfang, der es ermöglicht, zumindest einen Teil des Lebensunterhalts regelmäßig zu decken. Unschädlich ist dabei, wenn der Verwandte ergänzend Sozialleistungen zur Sicherung des Existenzminimums in Anspruch nimmt. Es ist auch nicht erforderlich, dass derjenige, dem Unterhalt gewährt wird, einen Anspruch auf Unterhaltsgewährung hat. Auf die Gründe für die Inanspruchnahme der Unterstützung kommt es ebenfalls nicht an (vgl. auch Nr. 3.2.2.1 der AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016).
46Vgl. EuGH, Urteil vom 18. Juni 1987, 316/85, Lebon, Rn. 20 ff.
47Erforderlich ist jedoch ein Nachweis des Vorliegens eines tatsächlichen Abhängigkeitsverhältnisses. Diese Abhängigkeit ergibt sich aus einer tatsächlichen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass der materielle Unterhalt des Familienangehörigen durch den Unionsbürger sichergestellt wird. Um zu ermitteln, ob eine solche Abhängigkeit vorliegt, ist zu prüfen, ob der Familienangehörige in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht selbst für die Deckung seiner Grundbedürfnisse aufkommt.
48Vgl. EuGH, Urteile vom 9. Januar 2007, C-1/05, Jia, Rn. 35 ff; und vom 16. Januar 2014, C-423/12, Reyes, Rn. 20 ff.
49Der Nachweis einer solchen Unterhaltsleistung kann mit jedem dafür geeigneten Mittel geführt werden. Eine Verpflichtungserklärung des Unionsbürgers, dem Betroffenen Unterhalt zu gewähren, genügt dagegen nicht (vgl. Nr. 3.2.2.1 der AVV zum FreizügG/EU vom 3. Februar 2016).
50Ausgehend von diesen Maßstäben spricht hier Einiges dafür, dass der Antragstellerin von ihrer Tochter Unterhalt gewährt wird. In der Person der Antragstellerin liegt aufgrund ihrer seit Juni 2015 bestehenden Krebserkrankung und der daraus folgenden Arbeitsunfähigkeit ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis vor, da sie nicht (mehr) in der Lage ist, für die Deckung ihres Lebensunterhalts selbst aufzukommen. Nach den Angaben der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren hat ihre Tochter im Mai 2018 ihren Wohnsitz auch bewusst mit dem Ziel in das Bundesgebiet verlegt, um der Antragstellerin in der schwierigen krankheitsbedingten Situation beizustehen und sie insbesondere auch finanziell zu unterstützen. Ihre Tochter sei bereit, ihren Unterhalt, ihre freiwillige Krankenversicherung und ihre Miete zu übernehmen. Die Antragstellerin hat zudem nachgewiesen, dass ihre Tochter hierzu wirtschaftlich grundsätzlich auch in der Lage ist. Das Einkommen, das die Tochter der Antragstellerin aus ihrer Saisonbeschäftigung bei der Firma M. & T1. erzielt (2.139,- € brutto), reicht nämlich rechnerisch aus, um sowohl ihren eigenen Lebensunterhalt als auch den der Antragstellerin zu decken: Einem Bedarf i.H.v. insgesamt 1.279,- € (432,- € Regelsatz pro Person, da beide ein eigenes Zimmer in demselben Haus bewohnen, sowie Miete der Tochter i.H.v. 265,- € und Miete der Antragstellerin i.H.v. 150,- €) steht ein (bereinigtes) Einkommen i.H.v. etwa 1.377,87 € gegenüber (etwa 1.477,87 € netto abzüglich Werbungskosten nach § 11b Abs. 2 SGB II i.H.v. 100,- €; ein weiterer Abzug in Form des Erwerbstätigenfreibetrags nach § 11b Abs. 3 SGB II i.H.v. 200,- € kommt im Anwendungsbereich des Unionsrechts hingegen nicht in Betracht). Es fehlt derzeit lediglich an einem Nachweis, dass die Tochter der Antragstellerin auch tatsächlich regelmäßig Unterhalt - sei es in Form von Sachleistungen, sei es in Form von Geldbeträgen - aus ihrem Einkommen zukommen lässt. Auch dies bedarf jedoch näherer Aufklärung im Rahmen des Hauptsacheverfahrens.
512. Soweit die Antragstellerin die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung begehrt, hat der Aussetzungsantrag ebenfalls Erfolg. Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 112 JustG NRW zulässig und auch begründet.
52Im Rahmen der vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse der Antragstellerin an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Abschiebungsandrohung.
53Zwar liegen die Voraussetzungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 bis 3 FreizügG/EU vor. Nach Satz 2 dieser Vorschrift soll in dem Bescheid, mit dem die Ausländerbehörde - wie hier - feststellt, dass dem Unionsbürger oder seinem Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht zusteht, die Abschiebung angedroht und eine Ausreisefrist von - wie hier - grundsätzlich einem Monat gesetzt werden.
54Im Rahmen der weiteren Interessenabwägung ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Abschiebungsandrohung eine vollstreckungsrechtliche Annexmaßnahme zu der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts darstellt, die deren Schicksal hinsichtlich der Vollziehbarkeit letztlich teilt.
55Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
56Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Das Antragsinteresse hinsichtlich der Feststellung des Nichtbestehens des Freizügigkeitsrechts ist mit Blick auf den lediglich vorläufigen Charakter des vorliegenden Eilverfahrens in Höhe der Hälfte des gesetzlichen Auffangwertes (5.000,- €) ausreichend bemessen. Die Nebenentscheidung (Abschiebungsandrohung) fällt dabei streitwertmäßig nicht gesondert ins Gewicht.