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Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber dem Antragsteller bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens 5 K 1499/22.A nicht durchgeführt werden dürfen. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Die Antragsgegnerin und der Antragsteller tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens je zur Hälfte.
G r ü n d e
2I. Der Antrag hat im Hilfsantrag Erfolg.
3Der gestellte Hauptantrag ist unzulässig (1.), der Hilfsantrag ist zulässig und begründet (2.).
41. Der Antrag des Antragstellers,
5die aufschiebende Wirkung der Klage vom 12. Mai 2022 – 5 K 1499/22.A – anzuordnen,
6ist unzulässig.
7Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 1 VwGO ist unstatthaft, weil in der Hauptsache keine Anfechtungs‑, sondern eine Verpflichtungsklage zu erheben wäre. Eine isolierte Anfechtungsklage wäre unzulässig, weil ihr das Rechtsschutzbedürfnis fehlte.
8Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist nur statthaft, wenn in der Hauptsache eine zulässige Anfechtungsklage erhoben werden kann. Dies folgt aus der Bezugnahme des § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf § 80 Abs. 1 VwGO und ergibt sich auch aus der Regelung des § 123 Abs. 5 VwGO.
9Vgl. Schoch/Schneider/Schoch, VwGO, 41. EL Juli 2021, VwGO § 80 Rn. 55 und § 123 Rn. 20.
10Ein von der Rechtsprechung anerkannter Ausnahmefall liegt nicht vor.
11Vgl. BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 – 1 C 46/18 –, juris, Rn. 20 m.w.N.
12Im streitgegenständlichen Bescheid vom 29. April 2022 hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) isoliert auf den Wiederaufgreifensantrag des Antragstellers festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Sri Lanka nicht vorlägen. Mit der isolierten Aufhebung dieses Bescheids würden für den Antragsteller keine Abschiebungsverbote feststehen, auch bliebe die vollziehbare Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung aus dem vorangegangen und abgeschlossenen Asylverfahren unberührt.
13Zulässig ist demgegenüber ein Antrag gemäß § 123 VwGO auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hinsichtlich der Feststellung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG.
14Vgl. BVerfG, Beschluss vom 01. Juli 2021 – 2 BvR 627/21 –, juris, Rn. 23 m.w.N.; OVG NRW, Beschluss vom 11. September 2017 – 18 B 1033/17 –, juris, Rn. 6 ff. m.w.N:
152. Der hilfsweise gestellte nach dem vorstehenden zulässige Antrag des Antragstellers,
16der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, der zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen ihm gegenüber bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens 5 K 1499/22.A nicht durchgeführt werden dürfen,
17ist begründet.
18Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). § 123 Abs. 1 VwGO setzt ein besonderes Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) (b)) im Interesse der Wahrung des behaupteten Rechts (Anordnungsanspruch) (a)) voraus. Die tatsächlichen Umstände hierfür sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Maßgebend für die Beurteilung sind die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 2 AsylG).
19a) Dem Antragsteller steht ein Anordnungsanspruch im vorgenannten Sinne zu. Er hat die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG glaubhaft gemacht.
20Nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach‑ und Rechtslage kommt für den Antragsteller ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK in Betracht.
21Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
22Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei "nichtstaatlichen" Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur" (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend" sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere" (minimum level of severity) aufweisen. Dieses kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält. In seiner jüngeren Rechtsprechung stellt der Gerichtshof der Europäischen Union darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not" befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre".
23Vgl. BVerwG, Urteil vom 04. Juli 2019 – 1 C 45.18 –, juris, Rn. 11 f.m.w.N.; EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 –, juris, Rn. 90.
24Eine „Extremgefahr“, wie sie im Zuge der verfassungskonformen Auslegung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG mit Blick auf die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG bei Fehlen einer politischen Leitentscheidung aus rechtssystematischen Gründen zu fordern ist, setzt ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hingegen nicht voraus.
25Vgl. BVerwG, Beschluss vom 08. August 2018 – 1 B 25/18 –, juris, Rn. 13.
26Nach diesen Maßgaben steht dem Antragsteller auf Grundlage der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach‑ und Rechtslage und unter Vorbehalt einer genaueren Sachaufklärung – etwa durch Anfragen beim Auswärtigen Amt – im allein maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) ein Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK hinsichtlich Sri Lanka zu.
27Die allgemeine Lage ist in Sri Lanka bei tagesaktueller Betrachtung und insoweit in Abweichung von den bis vor einigen Monaten vorherrschenden Erkenntnissen wirtschaftlich äußerst schwierig und von immer gewalttätigeren Massenprotesten wegen steigender Nahrungsmittel‑, Treibstoff‑ und Energiepreise sowie durch die schwerste Wirtschaftskrise der modernen Geschichte des Landes geprägt, die auch zu einem erheblichen Mangel an lebenswichtigen Grundnahrungsmitteln und Medikamenten geführt hat,
28vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/sri-lanka-331.html; https://www.auswaertiges-amt.de/de/ReiseUndSicherheit/srilankasicherheit/212254; https://www.dw.com/de/sri-lanka-lebenswichtige-g%C3%BCter-sind-knapp/a-61788403 (zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022).
29Die sri lankische Regierung geht mit massiver Gewalt gegen die ebenfalls immer gewalttätigeren Proteste vor und hat einen allgemeinen Schießbefehl bezogen auf plündernde oder gewalttätige Demonstranten erteilt. Das Militär ist flächendeckend im Einsatz, es besteht eine landesweite Ausgangssperre zur Beendigung der Proteste.
30Vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/srilanka-169.html; https://www.tagesschau.de/multimedia/video/video-1030585.html (zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022).
31Die Informationslage deutet auch eine sich immer weiter verschärfenden Knappheit lebenswichtiger Güter (etwa Grundnahrungsmittel sowie notwendige Medikamente der Basisversorgung wie Diabetesmedikation oder einfache Schmerzmittel wie Paracetamol),
32vgl. https://www.dw.com/de/sri-lanka-lebenswichtige-g%C3%BCter-sind-knapp/a-61788403; https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/in-sri-lanka-droht-eine-hungersnot (zuletzt abgerufen am 18. Mai 2022),
33hin, die für weite insbesondere weniger einkommensstarke Teile der Bevölkerung Verhältnisse „extremer materieller Not“, die die Gefahr einer Unterschreitung des menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 3 EMRK – vorbehaltlich einer genaueren Aufklärung etwa durch im Eilverfahren nicht mögliche Anfragen an das Auswärtige Amt – bei der allein gebotenen summarischen Prüfung der Sach‑ und Rechtslage konkret besorgen lässt. Aus den oben zitierten Quellen ergibt sich, dass schon jetzt Teile der Bevölkerung unabhängig von aktiver Berufstätigkeit im Niedriglohnsektor als Tagelöhner keine ausreichende Nahrungsmittelversorgung mehr sicherstellen können. Darüber hinaus ergibt sich aus den vorgenannten Quellen, dass unabhängig von der finanziellen Situation auch die Versorgung mit im Einzelfall lebensnotwendigen Medikamenten unmöglich ist, weil es im öffentlichen Gesundheitssektor massiv daran fehlt.
34Auch die übrigen vorliegenden Informationen über Sri Lanka älteren Datums stützen die Annahme, dass Rückkehrer aus dem Ausland von den hieraus folgenden Gefahren in erheblicher Weise betroffen sein könnten. Nach den vorliegenden Informationen sind Rückkehrende auf sich allein gestellt bzw. von der Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte abhängig. Schon unter stabileren wirtschaftlichen Verhältnissen war es für Rückkehrende schwierig, ohne eine solche Unterstützung in angemessener Zeit wirtschaftlich und sozial wieder in Sri Lanka Fuß zu fassen.
35Vgl. Vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl‑ und abschieberelevante Lage in Sri Lanka (Stand: November 2020), S. 16.
36Auch unter Berücksichtigung der besonderen und für die Prognose eher günstigen Umstände des Einzelfalls des Antragstellers, auf die das Bundesamt zurecht verwiesen hat – bestehende umfangreiche familiäre Kontakte und Berufserfahrung als erfolgreicher selbständiger Gewürzhändler – ist im Rahmen der summarischen Prüfung der Sach‑ und Rechtslage im Eilverfahren nach den im Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Informationen nach der allein möglichen summarischen Prüfung der Sach‑ und Rechtslage im Eilverfahren keine andere Entscheidung gerechtfertigt. Insofern bedarf es weiterer Sachverhaltsaufklärung, die unter den Bedingungen des Eilverfahrens nicht möglich ist.
37b) Der Antragsteller hat auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Der Antragsteller muss jederzeit mit einer auf die Abschiebungsandrohung im Bescheid vom 12. August 2020 aus dem rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahren zum Aktenzeichen des erkennenden Gerichts 5 K 2070/20.A gestützten Abschiebung rechnen. Diese ist wirksam (vgl. 43 Abs. 2 VwVfG). Einer Abschiebung stehen daher derzeit keine asylrechtlichen Hindernisse entgegen. Der Antragsteller befand sich überdies nach Aktenlage Ende April 2022 bereits in Abschiebungshaft; hieraus wird deutlich, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Sri Lanka auch tatsächlich beabsichtigt ist.
38II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.