
Verfahrensgrundsätze
Wie jedes rechtliche Verfahren, so weist auch das Strafverfahren eine Vielzahl von Grundsätzen bzw. Prinzipien auf, die eine grundlegende Richtschnur für das gesamte Strafverfahren und das Handeln seiner Beteiligten (insbesondere für Richter, Staatsanwälte, Verteidiger) bilden.
Teils finden sich diese Grundsätze oder Prinzipien in der Strafprozessordnung (StPO). Teils ergeben sie sich aus übergeordneten Werken, nämlich dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland oder der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950.
Um ein Verständnis für den Ablauf des deutschen Strafverfahrens zu schaffen, werden im Folgenden die Grundsätze und Prinzipien im Einzelnen dargestellt.
Offizialprinzip
Nach dem Offizialprinzip obliegt die Strafverfolgung nur dem Staat ohne Rücksicht auf den Willen der Verletzten.
Dies hat beispielsweise zur Konsequenz, dass selbst dann ein Strafverfahren gegen die Täterin oder den Täter durchgeführt und diese oder dieser verurteilt wird, wenn die Verletzten nicht wollen, dass dies geschieht.
Doch erfährt dieser Grundsatz dadurch eine Einschränkung, dass es einige Delikte im Strafgesetzbuch (StGB) gibt, die nur dann vom Staat verfolgt werden können, wenn die Verletzten dies beantragt haben (sog. Antragsdelikte, , wie z. B. Beleidigung oder Hausfriedensbruch).
Gar eine Ausnahme erfährt das Offizialprinzip durch die sogenannte Privatklage. Durch sie kann nämlich die Verletzten selbst ohne Beteiligung der Staatsanwaltschaft gegen die Täterin oder den Täter Anklage vor dem Gericht erheben. Die Privatklage ist allerdings nur bei verhältnismäßig leichten Straftaten (z. B. Hausfriedensbruch, Beleidigung, einfache Körperverletzung) und zusätzlich nur dann möglich, wenn die Staatsanwaltschaft kein öffentliches Interesse an der Erhebung einer öffentlichen Klage sieht.
Anklagegrundsatz
Nach dem Anklagegrundsatz setzt ein gerichtliches Verfahren zwingend eine Anklagevoraus.
So darf das Gericht etwa eine vor seinen Augen in der Sitzung begangene Straftat nicht aburteilen, wenn hierzu keine Anklage erhoben worden ist.
Die Anklage erfolgt nach dem zuvor beschriebenen Offizialprinzip nicht durch die Verletzten, sondern durch die Staatsanwaltschaft. Ausnahmsweise können auch die Verletzten selbst Anklage erheben, sog. Privatklage.
Legalitätsprinzip
Nach dem Legalitätsprinzip ist die Staatsanwaltschaft verpflichtet, ihr zur Kenntnis gelangte Straftaten zu verfolgen und bei hinreichendem Tatverdacht Anklage zu erheben. Dieser Verfolgungszwang ist die notwendige Ergänzung zu dem oben beschriebenen Offizialprinzip. Denn wenn nach diesem Prinzip die Verletzten selbst nicht die Befugnis haben, Straftaten zu verfolgen, so muss sichergestellt werden, dass dies jedenfalls die Staatsanwaltschaft tut.
Allerdings ist die Staatsanwaltschaft nicht immer verpflichtet, Straftaten zu verfolgen. Die Strafprozessordnung sieht vielmehr auch Ausnahmen vom Legalitätsprinzip vor.
Einstellung des Verfahrens wegen geringer Schuld
So können Staatsanwaltschaft und Gericht übereinstimmend von der Verfolgung von Vergehen absehen und das Verfahren einstellen, wenn die Schuld der Täterin oder des Tätersals gering anzusehen wäre und kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung besteht. In der Praxis wird von dieser Vorschrift (§ 153 StPO) häufig bei erstmaligen Taten Gebrauch gemacht, die sog. Bagatelldelikte (bspw. Ladendiebstähle, Schwarzfahrten) darstellen.
Einstellung des Verfahrens unter Auflagen und Weisungen
Bei übereinstimmender Beurteilung durch Gericht und Staatsanwaltschaft kann das Verfahren auch dann eingestellt werden, wenn die Schwere der Schuld nicht entgegensteht und das an sich bestehende öffentliche Interesse an der Strafverfolgung durch die Erfüllung von Auflagen und Weisungen durch die Beschuldigte oder den Beschuldigten beseitigt werden kann.
Die praktisch bedeutsamste Auflage bei Anwendung dieser Vorschrift (§ 153a StPO) ist die Zahlung eines Geldbetrages an eine gemeinnützige Einrichtung.
Ermittlungsgrundsatz
Der Ermittlungsgrundsatz (auch Untersuchungsgrundsatz oder Prinzip der materiellen Wahrheit genannt) verpflichtet das Gericht zur Aufklärung des wahren Sachverhaltes von Amts wegen. Dies bedeutet, dass das Gericht auch ohne Antrag der Verteidigung oder der Staatsanwaltschaft Beweise erheben muss, um den Sachverhalt zu erforschen.
Unmittelbarkeitsgrundsatz
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit bedeutet, dass das Gericht sich nur auf Grund des unmittelbaren persönlichen Eindrucks, den es von der oder dem Angeklagten und den Beweismitteln in der Hauptverhandlung gewinnt, sein Urteil über Schuld und Strafe bilden darf.
Vor diesem Hintergrund genügt es beispielsweise nicht, dass ein Zeuge allein vor der Polizei sein Wissen bekundet. Vielmehr muss der Zeuge gegebenenfalls nochmals vor Gericht erscheinen und dort erneut seine Aussage wiederholen.
Auch ist das Gericht verpflichtet, während der Hauptverhandlung ständig und in derselben Besetzung anwesend zu sein. Nur so kann es sich von allen Vorgängen in der Hauptverhandlung ein unmittelbares Bild machen.
Mündlichkeitsgrundsatz
Der Grundsatz der Mündlichkeit besagt, dass nur der mündlich vorgetragene Prozessstoff in der Hauptverhandlung dem Urteil zugrunde gelegt werden darf. Alles, was im Verfahren geschieht, etwa die Vernehmung des Angeklagten, die Beweisaufnahme, die Plädoyers, muss danach mündlich erfolgen. Durch die Mündlichkeit wird sichergestellt, dass alle Verfahrensbeteiligten aus der Hauptverhandlung entnehmen können, was Gegenstand des Urteils sein wird.
Grundsatz der Öffentlichkeit
Nach dem Öffentlichkeitsgrundsatz muss die Hauptverhandlung an einem Ort oder in einem Raum stattfinden, zu dem während der Hauptverhandlung jedermann der Zutritt offensteht. Hierzu gehört auch, dass jedermann die Möglichkeit hat, sich vorab ohne besondere Schwierigkeiten über Zeit und Ort einer Gerichtsverhandlung zu informieren.
Üblicherweise erfolgt die Information über eine Gerichtsverhandlung durch einen Aushang vor dem Gerichtssaal.
Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist ein Kernstück des Rechtsstaates. Er soll den Richterspruch von sachfremden Erwägungen freihalten, indem die Gerichtsverhandlung nicht hinter „verschlossenen Türen“ stattfindet.
In besonderen Einzelfällen kann die oder der Vorsitzende des Gerichts die Öffentlichkeit ausschließen, wenn vorrangige Belange (z. B. zum Schutze der Privatsphäre eines Zeugen oder bei Gefährdung der Staatssicherheit oder eines Verfahrensbeteiligten) dies ausnahmsweise erfordern.
Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ (In dubio pro reo)
Nach dem Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ (lat. In dubio pro reo) wird bis zum gesetzlichen Nachweis der Schuld vermutet, dass die oder der Angeklagte unschuldig ist.
Daraus folgt, dass nicht die Angeklagten ihre Unschuld beweisen müssen, sondern umgekehrt das Gericht nachweisen muss, dass sie schuldig sind.
Infolge dessen darf das Gericht die Angeklagten nur dann bestrafen, wenn es nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu der Überzeugung gelangt, dass sie schuldig sind. Eine hohe Wahrscheinlichkeit genügt dagegen für eine Verurteilung nicht.
Jeder begründete Zweifel an der Schuld der Angeklagten führt vielmehr zu einem Freispruch.
Grundsatz der freien Beweiswürdigung
Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung ist das Gericht bei Klärung des Sachverhalts nicht an feste Beweisregeln gebunden. Vielmehr hat es die Beweise nach eigener freier Überzeugung zu bewerten, dabei freilich wissenschaftliche Erkenntnisse, die Gesetze der Logik sowie Erfahrungssätze des täglichen Lebens zu beachten.
Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters
Der Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters gewährleistet allen Richtern, auch den Laienrichtern (Schöffen), dass sie bei ihrer richterlichen Arbeit nicht an Weisungen gebunden, sondern nur dem Gesetz und Recht unterworfen sind. Um diese Unabhängigkeit auch persönlich sicherzustellen, können Richter grundsätzlich nicht ihres Amtes enthoben werden. So braucht der Richter nicht zu befürchten, im Falle einer unliebsamen Entscheidung versetzt oder sogar abgesetzt zu werden.
Grundsatz des gesetzlichen Richters
Der Grundsatz des gesetzlichen Richters verlangt, dass der für eine bestimmte Rechtssache zuständige Richterin oder Richter sich im Voraus, möglichst eindeutig aus einer allgemeinen Regelung ergibt.
Ein Richter darf also nicht erst aufgrund eines konkreten Falles ausgesucht werden, sondern muss schon vorher anhand allgemeiner Gattungsmerkmale bestimmbar sein.
Diese allgemeine Bestimmbarkeit wird durch eine jährlich festgelegte Geschäftsverteilung der Berufsrichterinnen und Berufsrichter und die Wahl und Auslosung der Schöffinnen und Schöffen gewährleistet. Durch den gesetzlichen Richter wird eine ungerechte Einflussnahme vermieden, die dahingehen könnte, für bestimmte Straffälle ein besonders nachsichtiges oder strenges Gericht zusammenzustellen.
Grundsatz des rechtlichen Gehörs
Der das gesamte Strafverfahren durchdringende Grundsatz des rechtlichen Gehörs besagt, dass einer gerichtlichen Entscheidung nur solche Tatsachen und Beweisergebnisse zugrunde gelegt werden dürfen, zu denen die von der Entscheidung Betroffenen zuvor haben Stellung nehmen können.
Der Beschuldigte darf also durch eine ihn belastende Entscheidung der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts nicht überrascht werden, sondern muss vorab Gelegenheit erhalten, sich zu äußern oder zu verteidigen.
Diesem Äußerungsrecht entspricht die Pflicht des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft, die Äußerungen auch zur Kenntnis zu nehmen und bei der Entscheidung in Erwägung zu ziehen.
Grundsatz der Fürsorgepflicht des Gerichts / des fairen Verfahrens (fair trial)
Unter der Fürsorgepflicht des Gerichts und dem Gebot eines fairen Verfahrens versteht man eine Vielzahl weiterer, aus Grundgedanken unserer Verfassung abgeleiteter Pflichten des Gerichts gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Allen Pflichten ist dabei gemein, dass sie der besonderen Belastung, die ein Strafverfahren insbesondere für die Angeklagten mit sich bringt, Rechnung tragen wollen. Als Beispiel sei die Pflicht des Gerichts genannt, durch Fragen und Hinweise dahin zu wirken, dass die Angeklagten und die Verteidigung sich vollständig äußern und sachdienliche Anträge stellen.
Verständigung in Strafsachen
Die seit 2009 nach der StPO in engen Grenzen zulässige verfahrensabkürzende Verständigung (im Sinne einer Urteilsabsprache im Rahmen der Hauptverhandlung) hat mit einem „Deal“, wie man ihn beispielsweise aus amerikanischen Spielfilmen kennt, nicht viel gemein.
Anders als in den Hollywood-Vorbildern ist die Verständigung im deutschen Strafprozess kein Handel oder gar Kuhhandel zwischen gleichberechtigten Strafprozessparteien. Dies gilt schon deswegen, weil der staatliche Strafanspruch gegen eine straffällige Person natürlich nicht zur freien Disposition des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft steht.
In Deutschland gehen strafprozessuale Absprachen regelmäßig dahin, dass der oder dem Angeklagten für den Fall eines Geständnisses ein konkreter Strafrahmen durch das Gericht zugesagt wird. Dies wird in aller Regel dazu führen, dass die oder der Angeklagte aufgrund eines Geständnisses schuldig gesprochen werden kann.
Die sich hieraus möglicherweise ergebende (häufig erhebliche) Abkürzung der Hauptverhandlung ist regelmäßig für alle Verfahrensbeteiligten sinnvoll. Sie ist insbesondere auch aus staatlicher Sicht ressourcensparend (alleine wegen der freiwerdenden Arbeitskraft der auf Justizseite Beteiligten) und kostendämpfend (z. B. die erheblich reduzierten Kosten für eine Beweisaufnahme).
Bei einer Urteilsabsprache im Rahmen der Hauptverhandlung sind die gesetzlichen Leitplanken zu beachten:
So muss die Verständigung unter Mitwirkung aller Verfahrensbeteiligten in öffentlicher Hauptverhandlung stattfinden, wobei Vorgespräche außerhalb der Hauptverhandlung nicht ausgeschlossen sind. Ferner muss das Ergebnis der Verständigung in das Hauptverhandlungsprotokoll aufgenommen werden. Schließlich hat das Gericht das von der oder dem Angeklagten im Anschluss an eine Verständigung abgegebene Geständnis auf seine Glaubhaftigkeit zu überprüfen. Das Gericht selbst darf keine konkrete Strafe zusagen, sondern lediglich einen Strafrahmen, den es im Rahmen seiner Urteilsfindung einhalten muss.
An die Verständigung ist das Gericht gebunden, wenn die Hauptverhandlung nicht eine wesentliche Veränderung der Sachlage ergibt. Bei der Bestimmung der Strafober- und untergrenze muss das Gericht die allgemeinen Strafzumessungserwägungen heranziehen. Die sich unter Beachtung des zugesagten Strafrahmens ergebende Strafe muss nach wie vor schuldangemessen, also darf nicht offensichtlich zu milde oder zu hoch sein.
Die Absprache kann sich nur auf die Strafe, nicht auf den Schuldspruch (z. B. „wegen Totschlags“, „wegen Mordes“ oder „wegen Raubes“ usw.) beziehen, weil die rechtliche Beurteilung der Tat der Verständigung nicht zugänglich ist.
Die getroffene Verständigung darf sich ebenfalls nicht darauf beziehen, dass das Urteil rechtskräftig werde, also von den Beteiligten nicht mit einem Rechtsmittel angegriffen wird, womit es einer Überprüfung durch ein Obergericht entzogen wäre. Die oder der Angeklagte ist in keinem Fall gehindert – auch in Anbetracht einer Verständigung und entgegen der Empfehlung seiner Verteidigung – gegen das Urteil ein Rechtsmittel einzulegen. Hierüber ist er durch das Gericht gesondert zu belehren (sog. „qualifizierte Rechtsmittelbelehrung“).
Verantwortlich: Der Präsident des Oberlandesgerichts Köln, Stand: 2025